Summary

Am 28. Juni 2025 wird die Hildegardskirche in St. Ingbert entwidmet – ein symbolischer Akt, der weit über seine lokale Bedeutung hinausreicht. Der kulturhistorische Essay rekonstruiert diesen Vorgang als Ausdruck eines zivilisatorischen Umbruchs: Kirchen als Speicher kollektiver Erinnerung verschwinden aus dem Stadtbild, ihre Sprache aus Stein wird nicht mehr verstanden. Die Analyse folgt der Spur dieses Bedeutungsverlusts durch Architektur, Liturgie, Sozialgeschichte und europäische Identität – und fragt, was es für eine Gesellschaft heißt, wenn Transzendenz aus ihren öffentlichen Räumen verschwindet. Der Text schlägt den Bogen von der konkreten Entwidmung bis zur Frage nach kulturellem Gedächtnis, religiösem Wandel und künftiger Raumgestaltung in einer säkularisierten, vielfältigen Gesellschaft.
Stilistische Orientierung: Essayistisch verdichtet, visuell stark, kulturkritisch reflektierend – im Geiste von La Dernière Cartouche und Étienne Valbreton.
Bildbezug: Illustrationen im Pastellstil mit realistischen Prozessionsmotiven, Saarland-Kontext und architektonischer Genauigkeit.

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Ein Ort der nichtvergeht

Über die Entwidmung der Hildegardskirche und den Verlust kultureller Räume

Louis de la SARRE Siegel

✍️ Louis de la SARRE

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Autor, Herausgeber und geistiger Architekt von La Dernière Cartouche. Ich schreibe an der Schnittstelle von Politik, Geschichte und Medienkritik – analytisch, meinungsstark, unabhängig. Mein Fokus liegt auf europäischen Fragen, vergessenen Perspektiven und der Rehabilitierung des gesunden Menschenverstands im Zeitalter der ideologischen Nebelwerfer. La Dernière Cartouche ist kein Nachrichtenportal, sondern ein Ort für Klartext, Tiefenschärfe und intellektuelle Gegenwehr.

📂 Rubrik: Kunst & Kultur
🗓️ Veröffentlichung: 21. Juni 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche
St Hildegard

Die Stille nach dem letzten Läuten wird schwer sein. Am 28. Juni 2025 wird in St. Ingbert die Hildegardskirche entwidmet, ein Vorgang von unaufgeregter Formalität, doch in seiner Tiefe ein seismographisches Signal für einen Wandel, der Europa in seinem Fundament berührt. Dieser Akt ist die Verdichtung einer Epoche, die sich ihrer eigenen Wurzeln zu entledigen scheint. Eine Gesellschaft entlässt ein Bauwerk aus seinem geistigen Dienst, und mit ihm: eine Form, eine Sprache, eine Erinnerung, die über Jahrhunderte prägend war. Eine Entäußerung vollzieht sich, welche das Sichtbare transzendiert und unser Verständnis von Raum, Gemeinschaft und Transzendenz neu kalibriert.

Die Sprache aus Stein

Kirchen sind keine neutralen Baukörper. Sie sprechen. Sie reden mit Licht, mit Achsen, mit Höhe, mit Stille. Sie sind die architektonische Ausformung eines Weltverhältnisses, gebaute Theologie, in der die Geometrie theologischen Imaginationen gehorcht. In ihnen materialisiert sich ein Bild des Menschen im Verhältnis zum Ewigen. Der Raum ist nicht einfach da, er bedeutet.

Die Hildegardskirche, in den Jahren 1928 und 1929 nach Plänen von Albert Boßlet errichtet, verkörpert ein solches sprechendes Bauwerk. Der rote Backstein, die gedrungene Masse, die deutliche Assoziation an bergmännische Stollen: Das ist keine ästhetische Spielerei. Es ist ein Ausdruck tief verwurzelter regionaler Identität. St. Ingbert war Kohle, war Tiefe, war Arbeit. Der Glaube wirkte hier als tragende Kraft im mühsamen Alltag. Boßlets Architektur gibt dieser Dialektik Raum. Sie ist ernst. Sie besitzt etwas Zwingendes, eine Ehrlichkeit in Material und Form, die das Ringen des Menschen mit seiner Existenz abbildet. Doch was geschieht mit einer Architektur, deren Sprache kaum jemand mehr zu verstehen vermag? Was bleibt, wenn die liturgische Ordnung, für die sie geschaffen wurde, versiegt und das Gefäß leer zurückbleibt?

Der Verlust des kollektiven Gedächtnisses

Kirchen sind Speicher. Sie beherbergen Rituale, sie bewahren Geschichten. Sie fassen Stimmen, sie enthalten Leben, unausgesprochene Gebete. In ihren Mauern wurde getauft, getraut, getrauert und gehofft. Sie nahmen in ihrem Mauerwerk die Biografien unzähliger Menschen auf. Die Stille, die man in ihnen spüren kann, ist keine leere Stille. Sie ist gesättigt. Gesättigt vom Weihrauch vergangener Jahrzehnte, vom Echo der Orgel, von den Blicken derer, die hier Trost suchten oder Erlösung erflehten.

Die Entwidmung dieser Kirche ist somit mehr als ein bloßer Akt der Verwaltung. Sie ist ein Akt der Entbindung – von Verantwortung, von Form, von Gedächtnis. Eine Gesellschaft entlässt einen Ort aus seiner Verpflichtung, das Unsichtbare zu beherbergen. Wir verlieren einen Raum, wir verlieren eine Praxis des Innehaltens, eine Möglichkeit, sich dem Rauschen des Alltags zu entziehen. Es schwindet die Fähigkeit, das Unsichtbare zu denken, jenen Bereich jenseits des Rationalen und Messbaren. Der sakrale Raum, unabhängig von individueller Glaubenshaltung, hielt die Möglichkeit offen, dass nicht alles erklärbar, nutzbar, monetarisierbar ist. Er wirkte als Bollwerk gegen die totale Profanisierung der Welt. Sein Verschwinden zerreißt ein unsichtbares Band zum Metaphysischen.

Der Raum als Träger europäischer Zivilisation

Jede Kirche ist ein monumentales Fragment einer Epoche. Ihre Existenz verweist auf das, was einmal selbstverständlich galt: Transzendenz, Ordnung, Kontinuität. Der Kirchenbau war über Jahrhunderte die physische Manifestation europäischer Kultur, ihr sichtbarer Ausdruck im Stadtbild, in der Landschaft. Er stand für die Gleichzeitigkeit von Ewigkeit und Alltag, für das Ineinander von Liturgie und Leben, für eine universelle Orientierung im Diesseits.

Die Hildegardskirche verkörpert in ihrer Form das spezifische Verhältnis von Industriegesellschaft und Glauben, wie es in weiten Teilen des Ruhrgebiets und der Saarlandregion bestand. Sie zeigt, dass Spiritualität in Schwere, Materialität und der rauen Wirklichkeit der Arbeit leben kann. Der Glaube passte sich formal an, fand Ausdruck in einer Ästhetik des Widerständigen. Was hier aus dem sakralen Dienst ausscheidet, ist ein vitales Glied im langen historischen Körper Europas. Es ist eine Verarmung des kulturellen Inventars, ein Abschied von einer Sprache, die einst die gemeinsame Erzählung unserer Zivilisation trug.

Frankreichs Umgang mit entwidmeten Sakralräumen

In Frankreich, wo Kirche und Staat seit dem Gesetz von 1905 strikt getrennt sind, wird ein prinzipiell anderer Umgang mit entwidmeten Gotteshäusern praktiziert. Die Gebäude sind dort oft nationales Kulturgut. Sie werden erhalten, gepflegt und belebt – als kulturelle Orte, als öffentliche Räume, selten als austauschbare Nutzflächen. Ein Konzert in einer entweihten Kirche ist dort keine Missachtung, es ist eine Weiterführung der raumeigenen Intention: Sammlung, Akustik, Resonanz. Der sakrale Charakter bleibt spürbar, auch wenn keine Messe mehr gefeiert wird. Das Gebäude als solches wird nicht entwertet, seine Geschichte nicht negiert.

Deutschland verliert hingegen oft den Raum selbst – durch Umbau, durch allzu oft gedankenlose Zweckentfremdung, bisweilen durch Abbruch. Die Diskussion um die Nachnutzung wird selten als kulturelle Herausforderung begriffen, vielmehr als betriebswirtschaftliche Aufgabe. Was dabei unwiederbringlich verloren geht, ist die Aura des Ortes, die spezifische Atmosphäre, die durch Jahrhunderte der Nutzung und Verehrung entstand. Die bloße Effizienz der Umnutzung verkennt den tiefgreifenden Bedeutungsverlust.

Der Horizont gesellschaftlicher Umbrüche

Die Entwidmung der Hildegardskirche ist ein Symptom eines tiefgreifenden Wandels, der sich in der europäischen Gesellschaft vollzieht. Die Zahl der Kirchenaustritte steigt, während religiöse Traditionen bei vielen musealen Status besitzen. Die wachsende muslimische Bevölkerung braucht neue Räume für ihre Spiritualität. Doch was wächst nach an Baukörpern, die eine ähnlich prägende Kraft für das gesamte Stadtbild entfalten könnten?

Kirchen verschwinden, Moscheen entstehen. Die öffentliche Architektur verliert an Tiefe. Multifunktionsräume, austauschbare Funktionsbauten, ersetzen das Gewachsene, das organisch Entstandene. Was bleibt, wenn die Vertikale verschwindet? Wenn kein Raum mehr auf das Jenseits verweist, auf das Unverfügbare, auf das Maßlose, auf eine Dimension jenseits des materiell Greifbaren?

Es bleibt eine flache Ordnung. Eine Ordnung, die effizient sein mag, die sich an ökonomischen Parametern misst, die jedoch nicht erinnerungsfähig ist. Eine solche Gesellschaft läuft Gefahr, ihre eigene metaphysische Dimension zu verlieren, jene Tiefe, die über das bloß Nützliche hinausgeht und Sinn stiftet.

Letzter Schuss

Am 28. Juni 2025 wird kein Gebäude einstürzen. Kein Skandal wird durch die Medien gehen. Die Hildegardskirche wird entwidmet. Die Glocken werden vielleicht noch einmal läuten – und dann verstummen. Es wird leise sein. Vielleicht wird jemand draußen stehenbleiben. Vielleicht wird niemand es bemerken, jenseits der Gemeinde.

Doch wer es sieht, wer diese innere Bewegung begreift, der wird wissen: Hier fällt ein letzter Schuss. Es ist keine Geste des Zorns. Es ist keine Geste der Rebellion. Es ist eine tiefe Müdigkeit der Formen und das allmähliche Verstummen einer jahrhundertealten Sprache. Ein Schuss, der nicht töten will, sondern wecken. Ein letztes Zeichen – für das, was auf dem Spiel steht, wenn wir vergessen, wie aus Steinen Sinn wurde.

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