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Sag mir, wo die Blumen sind – und wer sie noch sucht

Marlene Dietrich und das Lied, das sich immer wieder neu erfand

Clemence Moreau Siegel

✍️ Clemence Moreau

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Clémence Moreau schreibt gegen das Vergessen des Feinen. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, Feuilletonistin und Verteidigerin der Ambivalenz – dort, wo Sprache noch riskant, Denken noch mehrdeutig und Schreiben noch keine PR war. In La Dernière Cartouche seziert sie die Verflachung des Diskurses, das Verschwinden der Ironie und die therapeutische Selbstaufgabe der Kulturseiten. Ihre Texte sind stille Monokulare auf eine Welt, die einst Sprache liebte – und sie heute fürchtet.

📂 Rubrik: Kunst & Kultur
🗓️ Veröffentlichung: 15. Juni 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Fünf Fassungen von “Sag mir, wo die Blumen sind” – Fünf Spiegel einer Epoche

Manche Lieder verschwinden nicht einfach, sie graben sich tief in unser kollektives Gedächtnis ein. “Sag mir, wo die Blumen sind” ist so ein Lied. Es wiederholt sich, kreist um sich selbst, fast so, als wollte es uns sagen: Wer nicht versteht, muss fragen. Und wer fragt, gibt die Hoffnung nicht auf. In der einzigartigen Stimme von Marlene Dietrich fand dieses Lied eine Gestalt, die alles andere als statisch war. Sie sang es nicht nur einmal, sondern immer wieder. Und jedes Mal klang es anders.

Als Pete Seeger im Jahr 1955 die ersten Zeilen seines Liedes skizzierte, war ihm vermutlich nicht bewusst, dass er einen Ton finden würde, der über Jahrzehnte hinweg durch Sprachen, Kulturen und Kriege schwingen sollte. Er schrieb das Lied nicht in einem Moment künstlerischer Erleuchtung, sondern beim Durchblättern eines sowjetischen Romans: Der stille Don von Michail Scholochow. Dort, fast beiläufig, stößt er auf den Satz eines Kosaken, der fragt: „Sag mir, wo die Blumen sind?“ – eine Wendung, die im Roman selbst unkommentiert bleibt, aber in Seegers musikalischer Welt zur Keimzelle eines universellen Klagelieds wird.

Man hat viel darüber spekuliert, ob diese Zeile selbst schon einem ukrainischen Volkslied entstammt – einer Melodie vielleicht, die über Felder und Gräber hinweggetragen wurde und in ihrer melancholischen Einfachheit ein ganzes Jahrhundert auf den Punkt bringt. Ob russisch oder ukrainisch, ob literarisch oder oral tradiert: Die Herkunft des Motivs ist europäisch, ost-europäisch – und sie wandert, durch Seeger, über den Atlantik.

In den Vereinigten Staaten beginnt das Lied sein eigenes Leben. Seeger, der als politischer Sänger im Visier der McCarthy-Kommissionen steht, schafft mit diesem Lied etwas Seltenes: eine Antikriegshymne, die nicht agitatorisch ist, nicht direkt anklagt, sondern ihre Wirkung durch sanfte Wiederholung entfaltet. Keine Namen, keine Gegner – nur die nüchterne Feststellung eines Verlusts, der sich durch alle Generationen zieht.

Die ersten drei Strophen schreibt Seeger 1955. Erst Joe Hickerson ergänzt zwei Jahre später die fehlenden Teile, in denen aus Mädchen Soldaten werden – und aus Gräbern wieder Blumen. Das Lied wird damit zum geschlossenen Kreis: Leben, Liebe, Tod – und Wiederkehr. So schlicht diese Struktur auch erscheint, so tief sitzt die Anklage, die sich in ihr verbirgt. Nicht als Geschrei, sondern als leiser Vorwurf an jene Welt, die nicht zu lernen scheint.

Es ist diese leise Form der Anklage, die Marlene Dietrich aufgreift. Doch sie tut es nicht als Amerikanerin – sondern als Frau, die Europa kennt. Die Schuld kennt. Die Hoffnung kennt. Und die weiß, dass dasselbe Lied nie gleich klingt, wenn es durch eine andere Geschichte hindurch gesprochen wird.

Montréal 1962: Die ungefilterte Wahrheit

Die erste bekannte Aufnahme stammt von einer UNICEF-Gala 1962 in Montréal. Es ist eine Live-Darbietung, reduziert auf Dietrichs Stimme und eine minimalistische Begleitung. Hier ist nichts geglättet oder aufwendig orchestriert. Dietrichs Stimme bricht, sie wirkt fast wie ein Sprechgesang – pur, unmittelbar, ohne Pose oder Technik. Die politische Spannung der Zeit – der Kalte Krieg, die Berliner Mauer, die allgegenwärtige atomare Bedrohung – legt sich wie ein unsichtbarer Schleier über die Worte. Ihre eigene Geschichte als Exilantin und entschiedene Nazi-Gegnerin verleiht diesem Vortrag eine Dringlichkeit, die keine Studiofassung jemals erreichen könnte. Es ist kein Lied, es ist ein Bekenntnis.

Die Studiofassung: Kontrolle und Komposition

Nur wenig später erschien die Studioaufnahme als 7-Zoll-Single bei Electrola. Burt Bacharach arrangierte sie für ein Orchester. Die Komposition wird tragend, beinahe sakral. Dietrichs Stimme ist nun stabil, getragen, voller Gravitas. Der Schmerz bleibt, aber er ist gerahmt, gehalten. Die rohe Klage von Montréal verwandelt sich in eine musikalisch kontrollierte Trauer. Es ist diese Fassung, die das Lied in Deutschland so berühmt macht. Sie bietet Identifikation ohne Selbstmitleid. Die Wunde wird nicht offen gezeigt, sondern kunstvoll umrissen.

Französisch: Eine Stimme zieht sich zurück

“Où vont les fleurs d’antan” erschien ebenfalls 1962 auf der EP „Marlène“. Der Text ist adaptiert, nicht einfach nur übersetzt. Es ist kein Aufschrei, sondern ein Chanson. Die Instrumentierung bleibt nah an der deutschen Studiofassung, doch die Sprache ändert alles. Dietrich singt weicher, zarter. Das Französische erlaubt Rückzug, Andeutung, melancholische Eleganz. Keine Anklage mehr, sondern Erinnerung. Diese Version ist kein Ruf an die Nation, sondern eine leise Frage an die Zeit.

Englisch: Der globale Ton

1963 sang Dietrich das Lied bei der Royal Variety Performance. Es war eine TV-Fassung auf Englisch, orchestral begleitet und für das britische Publikum aufbereitet. Hier zeigte sich eine weltläufige Dietrich, deren politische Botschaft eingebettet war in künstlerische Souveränität. Die Stimme ist kontrolliert, die Haltung klar. Die Emotionalität tritt hinter die Interpretation zurück. Es ist ein weltbürgerlicher Vortrag, der das Lied aus dem Kontext des deutschen Erinnerns herausführt in eine internationale Symbolsprache.

Die späte Dietrich: Und plötzlich wird das Lied weich

Auf späteren Compilations und Neuveröffentlichungen, etwa “Die neue Marlene” (1965), findet sich eine deutlich weichere Studiofassung. Die Stimme ist tiefer, reifer, das Arrangement nuancierter. Die Trauer wird zur Kontemplation. Der Ton ist abgeklärter, weniger fordernd, fast philosophisch. Man hört nicht mehr die Anklägerin, sondern die Zeugin. Diese spätere Version nähert sich klanglich der französischen an. Aus der Frage wird keine Anklage mehr, sondern eine meditative Form des Erinnerns. Das Lied hat sich verwandelt, ohne sich zu verlieren.

Fünf Stimmen, eine Erinnerung

Dietrichs Interpretationen dieses einen Liedes sind weit mehr als bloße Wiederholungen. Sie sind eine fortschreitende Verwandlung. Jede Version spiegelt nicht nur ihre Stimme wider, sondern auch den historischen Moment, die Sprache und das jeweilige Publikum. “Sag mir, wo die Blumen sind” wurde durch sie zu einem musikalischen Palimpsest: Ein Lied, das mit jeder Aufführung eine neue Spur trägt, ohne die alte zu tilgen. Ihre Stimme verändert sich, aber die Frage bleibt. Und das ist vielleicht das Größte, was ein Lied leisten kann: Es bleibt offen.

In der Sendung “Deutsche Schlagerfestspiele 1963

Enregistrée à Paris en 1962.

Spätere deutsche Fassung

UNICEF Gala – “Musik der Welt” vom 6 Oktober 1962 in der Kongresshalle in Düsseldorf

Live at the Royal Variety Performance, held at the Prince of Wales Theatre in London.

Un ange nommé Marlène, c’est le titre du programme de l’Ancienne Belgique.
Mais vous avez terminé tout à l’heure votre tour de chant par une phrase qui nous a intrigués et inquiétés, tout en nous touchant profondément :
Vous avez dit : « J’aime beaucoup votre pays, parce que pendant la guerre, j’ai souffert avec vous. »
Que vouliez-vous dire ?
— J’étais avec l’armée américaine, et j’ai passé beaucoup de temps en Belgique. J’étais même à Bastogne quand tout cela est arrivé, et j’ai souffert avec les Belges, beaucoup, parce que j’avais la chance de voir de près le courage des gens. C’est beau.
— Est-ce pour cette raison que vous aimez la chanson “Où vont les fleurs ?” Que dit-elle, cette chanson ?
— C’est une chanson contre la guerre. Et je suis très heureuse, parce que, en ce moment, ce disque a beaucoup de succès. Parce que je pense sincèrement qu’il n’y a pas une personne au monde qui aime la guerre. Alors je crois que cette chanson parle pour nous tous. Que c’est ridicule, et que ça se répète toujours. Et la chanson demande : “Quand serons-nous jamais ?”
— On dit que vous allez enregistrer maintenant cette chanson en plusieurs langues ?
— Je l’ai chantée en japonais, en anglais, en allemand…
— Pourquoi justement ?
— Pas pour faire passer un message, mais parce que le disque a eu un tel succès en Allemagne, que nous pensons qu’il peut aussi marcher dans d’autres pays. Alors je vais le faire en espagnol, en italien, en japonais, en russe, et même en yiddish ! Je vais l’apprendre.
— Autre chose maintenant. Vous étiez un peu inquiète lorsqu’on vous a proposé l’Ancienne Belgique ?
— Non, non, pas du tout ! Parce que j’adore les cafés-concerts. Je me sens beaucoup mieux que dans les grands théâtres. Et tout le monde m’avait dit : “Tu peux aller là-bas.” La première chance que j’ai eue, c’est venu.
— Enfin, vous avez un musicien un peu extraordinaire à la tête de l’orchestre de l’Ancienne Belgique. Qui est cet homme ?
— C’est un jeune compositeur, il s’appelle Buzz. Malheureusement, je ne peux pas toujours l’avoir, parce qu’il travaille beaucoup aux États-Unis. Il me fait une grande faveur quand il vient jouer pour moi. Toutes les orchestrations que vous avez entendues, c’est lui. Il prend une petite chanson et la rend grande — comme “Déjeuner du matin” de Prévert et Kosma. Il en fait une chose tragique, intense. C’est souvent lui qui fait ça, parce que la chanson est tragique dans les paroles, pas dans la musique. Et je l’adore. Je dis ça d’ailleurs sur scène.
— Vous voulez dire au revoir à nos téléspectateurs et auditeurs ?
— Oui. Au revoir, et merci.

Ein Engel namens Marlène“ – so heißt das Programm in der Ancienne Belgique.
Doch Sie haben eben Ihr Chanson-Programm mit einem Satz beendet, der uns überrascht und bewegt hat:
Sie sagten: „Ich liebe Ihr Land sehr, denn während des Krieges habe ich mit Ihnen gelitten.“
Was meinten Sie damit?
— Ich war mit der amerikanischen Armee und habe viel Zeit in Belgien verbracht. Ich war sogar in Bastogne, als das alles geschah, und ich habe mit den Belgiern gelitten – sehr. Denn ich hatte das Glück, den Mut der Menschen aus nächster Nähe zu sehen. Das war bewegend.
— Ist das der Grund, warum Sie das Lied „Sag mir, wo die Blumen sind“ so mögen? Was sagt dieses Lied?
— Es ist ein Lied gegen den Krieg. Und ich bin sehr glücklich, denn im Moment hat diese Platte großen Erfolg. Ich glaube wirklich, dass es keinen Menschen auf der Welt gibt, der den Krieg liebt. Und deshalb spricht dieses Lied für uns alle. Es ist absurd, und es wiederholt sich immer wieder. Das Lied fragt: „Wann werden wir es je begreifen?“
— Man sagt, Sie wollen dieses Lied nun in mehreren Sprachen aufnehmen?
— Ich habe es auf Japanisch, Englisch, Deutsch gesungen…
— Warum?
— Nicht, um eine Botschaft zu senden – aber weil die Platte in Deutschland so ein Erfolg war, glauben wir, dass sie auch in anderen Ländern ankommen wird. Also werde ich sie auf Spanisch, Italienisch, Japanisch, Russisch und sogar auf Jiddisch aufnehmen! Ich werde es lernen.
— Noch etwas anderes. Waren Sie ein wenig besorgt, als man Ihnen die Ancienne Belgique vorschlug?
— Nein, überhaupt nicht! Ich liebe Cafés-Concerts. Ich fühle mich dort viel wohler als in großen Theatern. Und alle sagten zu mir: „Du kannst dorthin gehen.“ Meine erste Gelegenheit ergab sich – und ich kam.
— Sie haben zudem einen besonderen Musiker an der Spitze des Orchesters der Ancienne Belgique. Wer ist dieser Mann?
— Es ist ein junger Komponist namens Buzz. Leider kann ich ihn nicht immer haben, weil er in Amerika viel arbeitet. Es ist ein großer Gefallen, wenn er für mich spielt. Alle Orchestrierungen, die Sie gehört haben, stammen von ihm. Er nimmt ein kleines Lied und macht es groß – wie „Déjeuner du matin“ von Prévert und Kosma. Er macht etwas Tragisches daraus. Das ist oft seine Handschrift. Denn das Lied ist in den Worten tragisch, nicht in der Musik. Und ich liebe ihn. Ich sage das übrigens auch auf der Bühne.
— Möchten Sie sich von unseren Zuschauerinnen und Zuschauern verabschieden?
— Ja. Auf Wiedersehen – und danke.

Backstage-Interview auf Französisch, geführt in Belgien, ca. 1963.
Marlene spricht über „Sag mir, wo die Blumen sind“ (damals neu in ihrem Repertoire) und über Burt Bacharach.

Herkunft, Text & Rezeption des Liedes

📎 INFOBOX: Herkunft, Text & Rezeption des Liedes

Titel (Original):
Where Have All the Flowers Gone

Komponist / Text:
Pete Seeger (1955, Strophen 1–3), ergänzt von Joe Hickerson (1956, Strophen 4–5)

Erste Inspiration:
Roman Der stille Don von Michail Scholochow (UdSSR, 1934) – Motiv einer zirkulären Frage zur Vergänglichkeit. Mögliche Bezüge zu ukrainischem Volksliedgut.

Deutsche Fassung:
Sag mir, wo die Blumen sind – Text: Max Colpet (1962)
Erstauftritt: UNESCO-Weltjugendkongress Montréal, gesungen von Marlene Dietrich

Französische Fassung:
Où vont les fleurs d’antan (auch: Où sont les fleurs?)
Keine offiziell belegte Autorenschaft der Übersetzung; Interpretation durch Marlene Dietrich, ca. 1963

Musikalische Struktur:
5 Strophen, zyklischer Aufbau, bewusst schlicht.
Refrain endet stets mit:
Wann wird man je verstehn?“ (dt.)
Quand saura-t-on jamais?“ (fr.)

Rezeption:
– Dietrichs deutsche Version gilt als musikalische Mahnung der Nachkriegsgeneration
– Französische Version wird als chanson perçu, weich und intim, rezipiert
– Beide gelten als singuläre Beispiele europäischer Erinnerungskultur in Liedform

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