Putin – Schatten eines verlorenen Europas
in Essay aus der Kontur der Geschichte, geschrieben für La Dernière Cartouche
Editorial – Wenn die Rhetorik die Richtung wechselt
von der Redaktion von La Dernière Cartouche
Etwas hat sich verschoben. Nicht in Russland – sondern in Europa.
Noch vor wenigen Monaten lautete die Parole einhellig: Keine Verhandlungen mit Putin. Wer diplomatische Lösungen forderte, galt als naiv oder gefährlich. Waffenlieferungen galten als moralische Pflicht, nicht als Eskalationsstufe. Verhandeln war gleichbedeutend mit Verrat.
Heute, mit einem drohenden NATO-Ausstieg der USA im Raum – ausgesprochen von Donald Trump mit der Nonchalance eines Immobilienkalküls –, klingt plötzlich alles anders: Kriegsgefahr, Verteidigungsbereitschaft, Wehrpflicht, Kampf um Europa. Die gleichen Regierungen, die Verhandlungen ablehnten, trommeln nun für den Ernstfall. Der Ton hat sich gedreht – die Haltung nicht.
Warum dieser Wandel? Warum jetzt?
Was wäre, wenn es nie um Russland ging – sondern um das Gefühl westlicher Schutzmacht? Und was, wenn dieses Gefühl jetzt bröckelt, weil Amerika sich anderen Schauplätzen zuwendet?
Das folgende Essay geht diesen Fragen nicht mit Empörung nach, sondern mit dem, was in Zeiten wie diesen rar geworden ist: geopolitischer Nüchternheit. Es stellt keine Partei, sondern ein Gefüge in den Mittelpunkt. Und es fragt:
Was, wenn Putin nicht das Problem ist – sondern unser Umgang mit uns selbst?
„Man kann ein Land nicht verstehen, in dem der Horizont kein Ende kennt. Man kann es nur aushalten – oder fürchten.“
Peter Scholl-Scholl-Latour
Wer Russland verstehen will, muss in größeren Zeiträumen denken. Und in weiteren Landschaften. Dieses Land, das sich nicht in Provinzen gliedert, sondern in Zonen des Klimas, des Schweigens, der Standhaftigkeit, lässt sich nicht mit westlichen Begriffen wie Demokratie, Modernisierung oder Fortschritt greifen. Russland war nie eine Nation im klassischen Sinn – es war immer eine Zivilisation mit geopolitischer Schwerkraft. Wer sich ihr entzieht, ist nicht einfach draußen. Er ist verloren.
Diese Schwerkraft entsteht nicht aus Macht, sondern aus Gedächtnis. Russland ist ein Land, das sich erinnert. An Napoleon. An die Mongolen. An Stalingrad. An Jelzin. Und an die Leere, die nach dem Zerfall der Sowjetunion blieb – nicht als politisches System, sondern als soziales Vakuum.
In diese Leere trat ein Mann, der heute von vielen als Feindbild dient, den andere als Retter verklären, und der selbst weder das eine noch das andere sein will: Wladimir Putin.
Er kam nicht mit einer Vision – sondern mit einem Auftrag. Stabilisieren, reparieren, zusammenhalten. Was der Westen übersah, war, dass Russland in den 90er-Jahren nicht einfach „auf dem Weg zur Demokratie“ war. Es war ein gescheitertes, entblößtes Land – durch IWF-Reformen entkernt, durch Oligarchen zerfressen, durch Kriegserbe traumatisiert. Putin, der aus dem grauen Milieu der Dienste kam, war kein Heilsbringer. Er war ein Verwalter des Schadens.
Und dennoch sprach er im Herbst 2001 im Deutschen Bundestag von einer gemeinsamen Zukunft – von einem Raum „von Wladiwostok bis Lissabon“. Nicht als rhetorische Floskel, sondern als realpolitischer Vorschlag. Eine Sicherheitsarchitektur mit Russland, nicht gegen es. Die Antwort war höflich, aber leer. Europa war längst fest im atlantischen Kurs eingebunden – der Raum des Möglichen wurde kleiner, Jahr für Jahr.
Die USA hatten andere Pläne. Sie sahen Eurasien nicht als Partnerraum – sondern als Schachbrett. Zbigniew Brzezinski hatte das Drehbuch geschrieben: Wer die Ukraine kontrolliert, kontrolliert den Kontinent. Und damit die Weltordnung. In dieser Logik war jede Annäherung Europas an Russland eine Bedrohung – nicht für Europa, sondern für das amerikanische Primat. Thomas Friedmann, Condoleezza Rice – sie alle artikulierten, was dann diplomatisch nur noch verhüllt wurde: Europa darf nur so frei sein, wie es nützlich bleibt.
Als auf dem Maidan westliche Politiker Brötchen verteilten, während hinter den Kulissen bereits Posten in Kiews künftiger Regierung ausgehandelt wurden, war der Punkt überschritten. Dass Victoria Nuland in einem abgehörten Gespräch der EU den Mittelfinger zeigte – „Fuck the EU“ – war kein Ausrutscher. Es war die Wahrheit hinter der Rhetorik.
Putins Reaktion auf diese Entwicklung war keine Geburt eines neuen Zarenreichs. Es war eine Reaktion auf das Ende aller roten Linien. Die Krim war nicht der Anfang eines Eroberungskrieges – sie war das Symbol eines Moments, in dem Moskau glaubte, sich selbst zu verlieren. Wer in geopolitischen Kategorien denkt, muss das anerkennen – ohne es zu beschönigen.
Doch anstatt nachzudenken, hat Europa reflexhaft reagiert. Medien, die sich sonst differenziert geben, folgten einer einheitlichen Tonlage. Putin wurde dämonisiert – nicht analysiert. Die tägliche Doku-Flut auf ARTE, ZDFinfo und Phoenix ersetzte die kritische Einordnung durch ein Dauerbild: Putin als Giftmischer, Oligarch, Krimineller, Verschwörer. Der Zuschauer wurde nicht informiert, sondern programmiert.
Gleichzeitig wurde in Russland vieles pauschal als Propaganda abgetan. Doch die Wirklichkeit ist komplexer. Ja, es gibt Solowjow und die Kreml-nahen Kanäle. Aber es gibt auch Dissens, westlichen Zugriff, offene Kritik – freier empfangbar als manche westliche Gegenposition bei uns. Die Informationsverknappung findet heute nicht nur in Moskau statt – sondern auch in Berlin, Brüssel und Dublin.
Putin selbst ist kein Demokrat. Aber er ist auch kein Karikatur-Zar. Keine Eskapaden, keine First Lady, kein luxuriöses Doppelleben. Er lebt in Kontrolle, nicht im Überfluss. Und diese Kontrolle bietet dem russischen Volk etwas, das Europa ihm nie geben wollte: Respekt. Nicht moralisch – sondern staatlich.
Die westliche Welt hat nicht versäumt, Putin zu zähmen. Sie hat versäumt, sich selbst zu emanzipieren. Und nun, wo die Ordnung kippt, sind die Antworten nicht mehr politisch – sondern panisc
Nachtrag: Atlantische Risse, kontinentale Fragen
Donald Trump kündigt an, dass die USA aus der NATO austreten könnten – und plötzlich scheint Europa aufzuwachen. Nicht in Richtung Frieden. Sondern in Richtung Panik. Der Ton ist härter, die Rhetorik schärfer, die Kriegsgefahr omnipräsent. Und man fragt sich: Wenn die Gefahr so groß ist – warum wollte man dann nie verhandeln?
Die Wahrheit ist bitter: Europa hat sich zu lange auf eine Ordnung gestützt, die nicht die eigene war. Und jetzt, da die USA den Blick nach Asien richten, da China nicht länger ignorierbar ist, wird klar: Der alte Schutzschirm ist löchrig. Und Europa hat vergessen, selbst zu atmen.
Dass ausgerechnet jetzt Risse an den Rändern auftauchen – wie in der Türkei, wo die politische Lage kippt, wo erste Proteste aufkommen, wo die Machtfrage wieder offen ist –, zeigt, dass es nicht nur die transatlantische Achse ist, die wackelt. Auch die östliche NATO-Flanke beginnt zu kriseln. Und man fragt sich: Wer hält das noch zusammen, wenn Washington es nicht mehr will?
Europa steht an einem Scheideweg. Die Frage ist nicht: Was will Putin? Sondern: Was will Europa – und wer steht wirklich noch dahinter?
Dein Kommentar
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Bin kein Putin-Fan, im Gegenteil – Krieg bleibt Krieg, Punkt.
Aber was soll der Sinneswandel bei uns? Gestern noch „nie verhandeln“, heute plötzlich „Wehrpflicht! Krieg droht!“ – ernsthaft?
Trump sagt NATO is nich mehr sicher und schon flippt ihr aus. Vielleicht mal früher über eigene Sicherheit nachdenken sollen, statt nur auf Amis zu glotzen.
Putin bleibt’n AXXXX – aber wir verhalten uns wie Ahnungslos-Europa auf Valium.
– T.
Hallo Thomas .. das Wort mit „A“ bitte nächsten vermeiden
Ein hervorragend redigierter Text, der geschrieben werden musste. Auch ich bin kein Putin-Versteher, habe aber längst begriffen, dass wir ihm zu schmerzhaft auf die Füße traten – nachdem alle Linien längst überschritten waren.
Lieber Herr Sperl
herzlichen Dank für Ihre aufmerksame Rückmeldung.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text veröffentlichen sollte. Gerade als junges Magazin ist uns bewusst, wie schnell man heute – oft ohne gründliche Lektüre – in eine bestimmte Ecke gestellt wird, insbesondere in die der sogenannten „Putinversteher“. Ihre Reaktion bestätigt mir jedoch, dass die Entscheidung richtig war.
Es ging und geht nicht darum, Positionen schönzufärben, sondern um eine nüchterne Analyse dessen, was geschehen ist – und was daraus folgt. Ihre Worte zeigen, dass Differenzierung weiterhin möglich ist. Das ist ermutigend.
Mit besten Grüßen
LDS