Loading

Cet article est disponible en : 🇫🇷 Français

Mignonne

Die Geschichte eines unübersetzbaren Wortes

Louis de la SARRE Siegel

✍️ Louis de la SARRE

📖 Über den Autor lesen

Autor, Herausgeber und geistiger Architekt von La Dernière Cartouche. Ich schreibe an der Schnittstelle von Politik, Geschichte und Medienkritik – analytisch, meinungsstark, unabhängig. Mein Fokus liegt auf europäischen Fragen, vergessenen Perspektiven und der Rehabilitierung des gesunden Menschenverstands im Zeitalter der ideologischen Nebelwerfer. La Dernière Cartouche ist kein Nachrichtenportal, sondern ein Ort für Klartext, Tiefenschärfe und intellektuelle Gegenwehr.

📂 Rubrik: Linguistik & Übersetzungskunst
🗓️ Veröffentlichung: 09. Mai 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Haben Sie ein Lieblingswort?
Eines, das nicht nur klingt, sondern sich in Ihnen eingenistet hat – wie ein Blick, der bleibt?
Ich habe eins. Und obwohl ich mehrheitlich deutschsprachig aufgewachsen bin, ist es kein deutsches Wort. Es ist französisch.
Und es ist – mignonne.

Ich erinnere mich genau an die erste Begegnung. Ich war fünfzehn, vielleicht sechzehn. Ein Sommertag in Creutzwald, bei meiner Tante. Der Garten war voller Licht, irgendwo zirpte ein unsichtbares Insekt, und auf dem Gartentisch lag ein schmaler Gedichtband. Dünnes Papier, französisch gesetzt, unauffällig – und doch wie eine Falle für einen unachtsamen Blick. Ich schlug das Buch auf, zufällig. Und da war es – dieses eine Wort, in der ersten Zeile:

Mignonne, allons voir si la rose
Qui ce matin avait déclose
Sa robe de pourpre au soleil…

Ich wusste nicht, was dieses eine Wort bedeutete – mignonne. War es ein Name? Ein Kosename? Ich wusste nur: es war vollkommen …

Ich fragte meine Tante. „Das ist wie: Süße, Herzchen…“
Aber das war es nicht. Diese deutschen Wörter klangen, als hätten sie Holzschuhe an, während mignonne barfuß durch einen Rosengarten ging. Ich hielt es immer noch für einen Vornamen – vielleicht der Geliebten des Dichters, – und das obwohl das Gedicht ja den Namen „An Cassandra“ trug. Ich schrieb mir das Wort auf einen Zettel. Falzte ihn zweimal, steckte ihn weg, als hätte ich ein Geheimnis entdeckt, das sich selbst bewahren wollte.

Zurück in Deutschland zeigte ich es meinem Lehrer. Ein Kaplan mit Faible für Altgriechisch, der im Klassenzimmer mit leuchtenden Augen Euripides und Euclid zitierte.
Er erzählte von seinen spontanen Auftritten in griechischen Amphitheatern – nicht als Schauspieler, wohlbemerkt, sondern als Besucher, der von der Akustik so überwältigt war, dass er zu sprechen begann – für sich selbst, vor Fremden, aus Begeisterung.
Immer wenn wir keine Lust auf Goethe, Dürrenmatt oder Droste-Hülshoff hatten, verführten wir ihn mit einem falsch betonten altgriechischen Begriff. Fünf Minuten später standen wir auf imaginären Bühnen in Delphi.
Später erfuhr ich, dass er Monsignore wurde – und heute noch, mit 88 Jahren, im aktiven Dienst steht. Es hat mich nicht überrascht.

Es hatte ihn gepackt. Schon wenige Tage später schleppte er eine kleine Bibliothek ins Klassenzimmer: Reclam-Bändchen, eine zweisprachige Ronsard-Ausgabe, ein Wörterbuch französischer Diminutive – und dazu eine Liste mit deutschen Dichtern, die sich am Unmöglichen versucht hatten.

Rilke? Verstummt. George? Schwer wie Blei. Celan? Zu finster. Und die klassischen Übersetzer? Versuchten es mit „Liebste“, „Holdselige“, „Herzallerliebste“, „mein Liebes“ – als stammten sie aus einem verirrten Balladenabend.

„Süße?“ – sagte er und verzog das Gesicht. „Das klingt, als hätte der Meßner es hinten in der Sakristei gefunden.“

Aber auch er fand kein deutsches Äquivalent, das mignonne gerecht wurde.
Am Ende stand das Wort immer noch da – unübersetzt, aber nicht mehr allein.

So blieb das Wort – ungelöst, offen, schön wie eine Schneeflocke, die nie landet.

Jahre später, 1998, in Russland. Ich war zu Gast bei einer jungen Frau, in deren Wohnung die Bücherregale wie Mitbewohner wirkten. 
In einem der Regale stand ein Band:

Douglas Hofstadter – Le Ton beau de Marot.
Ich zog ihn heraus – und da war es wieder. Die Zeile, das Wort.
Mignonne.

Der Titel Le Ton beau de Marot ist ein bewusst mehrdeutiges französisches Wortspiel, das sich nur schwer eindeutig ins Deutsche übertragen lässt. Es bedeutet gleichzeitig:

  • „Der schöne Ton von Marot“ – also die ästhetische, klangliche Qualität des Gedichts von Clément Marot, auf das sich Hofstadter bezieht.
  • „Der schöne Ton – als Hommage an Marot“ – also auch im Sinne eines würdevollen Stils.
  • Und – in einer dritten Ebene – „Le tombeau de Marot“ klingt durch: ein literarisches „Grabmal“ oder ein Denkmal für Marot, was im Französischen eine poetische Tradition ist.

Douglas Hofstadter selbst legt im Buch dar, dass der Titel eine phonetische Anspielung auf das französische tombeau (Grabmal) ist, also auch als „Der schöne Klang des Grabmals (für Marot)“ lesbar wäre – im übertragenen Sinne: ein sprachliches Denkmal.

Eine mögliche deutsche Übersetzung, die die Mehrdeutigkeit andeutet, wäre:

  • „Der schöne Ton von Marot – ein Denkmal in Übersetzungen“
  • oder: „Der schöne Klang Marots – ein sprachliches Grabmal“

Aber: Es gibt keine ideale, exakte deutsche Entsprechung. Genau darin liegt ja die Pointe des Buchs – und die Schwierigkeit guter Übersetzung.

Mignonne -„Jeune fille à la rose, près de la fenêtre“

„Jeune fille à la rose, près de la fenêtre“

Hofstadter, dieser glasklare Analytiker mit Herz, versuchte in seinem Werk ein kleines französisches Gedicht in alle denkbaren Sprachen und Stile zu übertragen. Aber bei mignonne scheiterte auch er. Seine Vorschläge – sweetheart, cutie, dearie, darling – verhedderten sich zwischen Ironie, Kitsch und Ungenauigkeit.

„None of these, however, sings.“, schrieb er.

Ich fragte auch sie, die Lehrerin.
Sie erklärte mir höfische Diminutive (zärtliche, höfische Koseformen), semantische Felder (ganze Bedeutungsräume rund um das Wort), prosodische Feinheiten (die Musikalität des Wortes: Klang, Rhythmus, Silben).
Sie tat es mit solcher Leidenschaft, dass man ihr kaum entgehen konnte. Für sie war Sprache kein Stoff, sondern ein Lebensraum –
nicht eine Sammlung von Regeln, sondern eine Haltung zur Welt.

Ich blieb eine Weile in Russland – länger, als ich geplant hatte. Es war eine Zeit zwischen Sprachen, zwischen Jahreszeiten und zwischen Leben.
Wir heirateten im Frühjahr 1999.
Und als unsere Tochter im Dezember 2000 zur Welt kam, erinnerte ich mich nicht bewusst an das Gedicht – aber ein einziges Wort stand plötzlich vor mir:

Mignonne.

Ich verstand in diesem Moment nicht, was das Wort bedeutete.
Ich verstand, warum es dieses Wort gibt.

Worte wie mignonne sind keine Vokabeln. Man kann sie nicht nachschlagen, nicht ins Heft schreiben, nicht eins zu eins übertragen. Sie lassen sich nicht lernen – sie erscheinen.

À CASSANDRE

Mignonne, allons voir si la rose
Qui ce matin avoit desclose
Sa robe de pourpre au Soleil,
A point perdu, ceste vesprée,
Les plis de sa robe pourprée,
Et son teint au vostre pareil.

Las ! voyez comme en peu d’espace,
Mignonne, elle a dessus la place
Las, las, ses beautez laissé cheoir !
O vrayment marastre Nature,
Puis qu’une telle fleur ne dure
Que du matin jusques au soir !

Donc, si vous me croyez mignonne,
Tandis que vostre âge fleuronne
En sa plus verte nouveauté,
Cueillez, cueillez vostre jeunesse :
Comme à ceste fleur la vieillesse
Fera ternir vostre beauté.

Pierre de Ronsard, « Mignonne allons voir si la rose » (1545)

AN CASSANDRA

Mignonne, komm, wir wollen sehen,
ob jene Rose, die am Morgen
ihr Purpurkleid der Sonne zeigte,
am Abend nicht schon alles ließ –
die Faltenpracht, die zarte Farbe,
die deinem Teint so ähnlich schien.

Ach – sieh nur, wie in kurzer Zeit,
Mignonne, auf dem Gras verstreut,
all ihre Anmut niederlag!
O grausame Natur, warum
darf solch ein Blühen nicht bestehn,
nur von der Morgendämmerung zum Abend?

Drum – glaub mir, Mignonne: Solang
dein junges Alter noch erblüht
in seinem ersten vollen Grün,
pflück sie, pflück – die Jugendzeit,
denn wie die Rose wird auch bald
dein schönes Antlitz blass vergehn.

Pierre de Ronsard, Nachdichtung von Louis de la Sarre

Kürzlich habe ich mich auch mal daran gewagt, das Gedicht zu vertonen .

📽️ Ergänzendes Video · TikTok

Das Video von @christofsperl auf TikTok wurde durch unseren Artikel angestoßen und greift zentrale Gedanken weiterführend auf – mit klarem Sprachgefühl und analytischem Blick.
tiktok.com/@christofsperl/video/7502722038008712470
Video-ID: 7502722038008712470

1 Antwort

Trackbacks & Pingbacks

    Dein Kommentar

    An Diskussion beteiligen?
    Hinterlassen Sie uns Ihren Kommentar!

    Schreiben Sie einen Kommentar

    Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert