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Der Fall Le Pen
Justiz oder Justierung?
Der Fall Marine Le Pen wirft eine Frage auf, die Frankreich spaltet: Wird hier eine Schuld geahndet – oder eine Kandidatin verhindert?
Von Pierre Marchand 2. April 2025
Es ist ein Urteil mit Uhrwerk. Vier Jahre Entzug des passiven Wahlrechts – gerade lang genug, um Marine Le Pen aus dem Rennen zur nächsten Präsidentschaft zu nehmen, aber nicht so lang, dass es wie ein lebenslanges politisches Exil wirkte. Ein Balanceakt, der sich als rechtlich fundiert ausgibt, aber in seiner Konsequenz mehr nach Strategie schmeckt als nach Recht. Die Vorwürfe? Zweckentfremdung europäischer Fraktionsgelder. Die Begründung: Die betroffenen Mitarbeiter hätten nicht nur für die Fraktion gearbeitet, sondern auch – oder ausschließlich – für die Partei Rassemblement National. Ein Klassiker unter den institutionellen Minenfeldern, in denen sich Fraktion und Partei ohnehin kaum sauber trennen lassen. Doch plötzlich wird Trennschärfe zur moralischen Maxime, zur Waffe der Exaktheit, aufgeladen mit dem Gewicht einer demokratischen Notwendigkeit. Le Pen ist draußen – fürs Erste.
Und doch ist sie vielleicht nie gefährlicher gewesen. Die Entscheidung des Gerichts hat in ihrer politischen Wirkung etwas von einem verborgenen Reiz – wie eine Provokation, die gerade in ihrer vermeintlichen Rechtsförmigkeit jene düsteren Assoziationen weckt, die Frankreichs Eliten so gerne von sich weisen: die der gelenkten Justiz, der doppelten Standards, der unsichtbaren Hand, die nicht dem Gesetz dient, sondern der Macht.
Es ist kein Einzelfall. Erinnerungen werden wach an François Fillon, dem ein Skandal just in dem Moment angedichtet wurde, als er in Umfragen führte. An Nicolas Sarkozy, der zwar später verurteilt wurde, aber längst aus dem Spiel war. An Ursula von der Leyen, die nach Millionenverträgen per SMS nie in einem Verhandlungssaal erscheinen musste. Es ist das Flackern eines Musters, das sich über die Jahre gelegt hat: Verfahren gegen Systemgegner werden beschleunigt, Verfahren gegen Systemfreunde versickern. Nicht immer – aber oft genug, um Fragen zu provozieren. Und wenn die Justiz beginnt, im Rhythmus der Wahlkalender zu marschieren, verliert sie jenen ruhigen Takt, der ihr die Würde verleiht.
Innenminister Gérald Darmanin hat öffentlich erklärt, er hoffe, dass die Berufung von Marine Le Pen innerhalb eines angemessenen Zeitraums verhandelt werde. Die offizielle Begründung: Im Falle eines Freispruchs könnte Marine Le Pen doch noch kandidieren – man wolle Fairness ermöglichen. Doch wer zwischen den Zeilen liest, erkennt ein anderes Motiv.
Vielleicht erkennen führende Regierungsvertreter, dass eine verbannte Le Pen der Republik mehr schaden könnte als eine kämpfende. Vielleicht ahnen sie, dass das Urteil in der Bevölkerung nicht als Triumph des Rechts empfunden wird, sondern als gezielte Kastration der Wahlfreiheit – als vorauseilende Korrektur eines Ergebnisses, das die Republik nicht will, aber möglicherweise verdient.
In den Straßen bleibt es ruhig – vorerst. Der Rassemblement National ruft zum friedlichen Protest auf, doch man spürt, dass unter der Oberfläche Bewegung ist. Die Basis ist wach. In den sozialen Netzwerken wird Le Pen zur politischen Märtyrerin erklärt, und selbst in bürgerlichen Kreisen wird gemunkelt, ob dieser Prozess nicht mehr zerstört als schützt. Die öffentliche Meinung ist gespalten. Die einen sehen in Le Pen eine gefährliche Populistin, die nun zu Recht gestoppt wurde. Die anderen sehen eine gefährliche Verschiebung: Weg vom offenen Diskurs, hin zu einer präventiven Entsorgung politischer Unbequemer. Nicht durch Debatte, nicht durch Wahl – sondern durch juristischen Federstrich.
Am Ende bleibt die Frage, die keiner gerne laut stellt, aber alle mit sich tragen: Ist Marine Le Pen wirklich gefallen – oder ist das System entlarvt worden? Wurde hier eine Schuld geahndet – oder eine Rivalin neutralisiert? Der demokratische Rechtsstaat lebt nicht davon, dass er unfehlbar ist. Er lebt davon, dass man ihm glaubt. Wenn dieser Glaube schwindet, bleiben nur noch Gesetze ohne Legitimation – und Urteile, die das Gegenteil dessen bewirken, was sie zu schützen vorgeben.
La Dernière Cartouche erhebt nicht den Anspruch, Richter zu sein. Aber wir bestehen auf der einen Patrone, die niemals verschossen werden darf: der Wahrheit. Und wenn sie am Ende nur noch als Echo durch die Gänge der Justiz hallt, dann soll wenigstens jemand sagen, dass wir sie gehört haben. Nicht zum letzten Mal.
La vérité a encore une balle. („Die Wahrheit hat noch eine Kugel.“)
Hinweis der Redaktion (12. April 2025): In einer früheren Version dieses Artikels wurde fälschlicherweise Éric Dupond-Moretti als Justizminister genannt. Tatsächlich hatte Gérald Darmanin, der Innenminister, die betreffende Erklärung abgegeben. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten um Entschuldigung.
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In der Tat wirft der Text berechtigte Fragen auf. Dennoch müssen bei Frau Le Pen insofern besondere Maßstäbe angelegt werden, als sie selbst wiederholt härtere Sanktionen für Übertretungen gefordert hatte, die ihr nunmehr auf die Füße zu fallen droht. Beobachter der französischen Politik können ihren Verlauf in Teilbereichen auch als Darbietungen eines Korruptionstheater betrachten. Insofern würde diese neuerliche Entwicklung perfekt zum Programm passen. Doch seien wir froh, dass die Justiz noch autonom bleibt und nicht wie in einer Autokratie funktioniert. Es gibt Anhaltspunkte, dass Frau Le Pen Gelder der Allgemeinheit falsch verwendet haben könnte. Und, wäre dies genau so, darf man dies gern als Schlag gegen die zwangsehrlichen, kleinen Steuerzahler sehen. Es darf für Le Pen keine Sonderbehandlung geben.
Herr Sperl, Sie haben in einem Punkt zweifellos recht: Wer politische Strenge fordert, muss sich auch selbst an ihr messen lassen. Das gilt für Frau Le Pen wie für jeden anderen Akteur im politischen Raum. Die Justiz bleibt ein notwendiges Korrektiv – vorausgesetzt, sie arbeitet unabhängig, gleichmäßig und ohne parteipolitische Verzerrung. Doch genau an diesem Punkt stellen sich Fragen. Warum geraten bestimmte Figuren immer wieder zur passenden Zeit ins Visier? Und warum bleibt bei anderen alles still? Es geht nicht darum, jemanden zu verteidigen. Es geht darum, dass Recht nicht selektiv wirken darf – und dass Demokratie sich daran misst, wie sie mit den Unbequemen umgeht. Nicht nur mit den Genehmen.
Herr Marchand, da stimme ich gerne zu!