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Cancel Culture: Eine Gefahr für Erinnerungskultur, Meinungsfreiheit und historisches Bewusstsein

„Wer die Vergangenheit ausradiert, malt die Zukunft in bleiernem Grau.“

Was passiert, wenn wir unsere Geschichte nicht mehr aushalten?
Ein Aufruf gegen das große Vergessen. Und für eine mutige Erinnerungskultur.

Pierre Marchand Siegel

✍️ Pierre Marchand

📖 Über den Autor lesen

Pierre Marchand schreibt für La Dernière Cartouche über imperiale Linien, tektonische Verschiebungen und die wahren Bewegungen hinter den Flaggen. Er ist kein Kommentator, sondern Chronist – nicht von Ereignissen, sondern von Zusammenhängen. Geprägt von der Schule Scholl-Latours, denkt er kontinental, schreibt verdichtet und urteilt nie schneller, als er recherchiert. Marchand war lange als Auslandskorrespondent in Algerien, Jugoslawien, der Sahelzone und zuletzt in der Osttürkei unterwegs. Er glaubt nicht an Verschwörungen – aber an Interessen. Und an das Gedächtnis der Geographie.

📂 Rubrik: Verlorene Patronen
🗓️ Veröffentlichung: 26. März 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Die Deutungshoheit über Geschichte und Moral

Was einst als moralisches Korrektiv begann, ist längst zur ideologischen Abrissbirne verkommen. Die sogenannte Cancel Culture erhebt den Anspruch, darüber zu befinden, was erinnerungswürdig ist – und was besser verschwinden soll.

Kunstwerke, Straßennamen, Denkmäler, historische Figuren, ja selbst wissenschaftliche Thesen werden aus dem öffentlichen Raum entfernt. Nicht infolge neuer Erkenntnisse, sondern im Namen einer Moral, die das Heute als Richter über das Gestern setzt. Was dabei verloren geht, ist mehr als nur Material: Es ist das geistige Fundament der Gesellschaft.

„Denk-mal!“ – dieser sprachliche Imperativ ist keine Einladung zum Kult, sondern zur kritischen Auseinandersetzung. Doch wo einst das Denken stand, hat sich die Empörung breitgemacht. Zurück bleibt eine entkernte Öffentlichkeit, beraubt ihrer Tiefenschärfe.

Erinnerungsverlust als Machtinstrument

Die Praxis der Tilgung ist so alt wie die Macht selbst:

In der Antike etwa versuchte man durch die Damnatio Memoriae unliebsame Herrscher aus der Geschichte zu löschen – meist vergeblich, wie verblasste Inschriften und archäologische Funde belegen. Im Mittelalter brannten kirchliche Institutionen Ketzer und ihre Schriften – nicht um Wahrheit zu finden, sondern um Widerspruch zu ersticken. Im 20. Jahrhundert schließlich wurde der Geschichtsschatten totalitärer Systeme zur Strategie: Stalin ließ politische Rivalen aus Fotos und Archiven tilgen, die Nationalsozialisten verbrannten „undeutsche“ Bücher, Maos Kulturrevolution vernichtete Erinnerung im Namen einer neuen Welt.

Wer Geschichte auslöscht, will keinen Diskurs. Er will Deutungshoheit.

Was Gesellschaften verlieren

Eine Gesellschaft, die ihre Vergangenheit amputiert, verliert mehr als nur Figuren aus Stein.

Sie verliert ihre kollektive Erinnerung: Wo Denkmäler fallen, verschwinden auch die Kontexte. Fehler, Entwicklungen, Debatten – all das wird brüchig.

Sie ersetzt Reflexion durch Moralurteile: Wer historische Persönlichkeiten allein nach heutigen Maßstäben bemisst, wird bald keinen mehr dulden können. Goethe, Kant, Bismarck – alle wären „problematisch“.

Und sie verliert ihre Orientierung: Wenn niemand mehr als Vorbild bestehen darf, bricht das innere Koordinatensystem einer Gesellschaft zusammen.

Psychologie der Tilgung

Angst statt Argumente: In einer Kultur der ständigen Drohung, „gecancelt“ zu werden, weicht das freie Wort dem vorsichtigen Schweigen.

Opferkult statt Verantwortung: Wer sich über seine Opferrolle definiert, kapituliert vor der Komplexität der Geschichte. Nicht jeder war Held – doch auch nicht jeder war nur Täter.

Selbsthass statt Selbstkritik: Eine Gesellschaft, die sich ausschließlich über ihre Schattenseiten begreift, verliert ihre Integrität. Kritik ja – aber nicht um den Preis der Selbstverachtung.

Was zu tun ist? Es braucht keine Tabula rasa, sondern historische Lesefähigkeit. Nicht Zerstörung, sondern Kontext.

Erstens: Denkmäler sollen nicht stürzen, sondern sprechen. Erklärende Tafeln, kritische Begleittexte, historische Einordnung machen aus Stein Erinnerung – und keine Ideologie.

Zweitens: Aufklärung gehört nicht ins Feuilleton, sondern in Klassenzimmer und Hörsäle. Bildung, die Widersprüche aushält, ist der beste Schutz gegen moralische Säuberung.

Drittens: Der öffentliche Raum muss streitbar bleiben. Wo Denkmäler stehen, soll diskutiert werden – nicht gesäubert. Es braucht keine Leerstellen, sondern Debattenorte.

Viertens: Ein gesetzlicher Schutz historischer Stätten wäre ein Zeichen von Souveränität. Wer Geschichte nicht duldet, hat mit Zukunft nichts im Sinn. Eine Petition für ein Denkmal-Schutzgesetz wäre ein erster Schritt.

Cancel Culture ist keine Gerechtigkeitsbewegung. Sie ist eine moderne Form der Damnatio Memoriae – geschmeidiger, aber nicht minder destruktiv.

Eine selbstbewusste Gesellschaft verlernt das Erinnern nicht. Sie lernt – gerade dort, wo es unbequem wird.

Lasst uns nicht vergessen, sondern erinnern. Nicht tilgen, sondern denken.

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Was passiert, wenn wir unsere Geschichte nicht mehr aushalten? Was einst als moralisches Korrektiv begann, ist längst zur ideologischen Abrissbirne verkommen. Die sogenannte Cancel Culture erhebt den Anspruch, darüber zu befinden, was erinnerungswürdig ist – und was besser verschwinden soll.
Digitale Illustration erstellt mit Hilfe von KI (DALL·E) im Auftrag von La Dernière Cartouche. Verwendung nur mit Genehmigung der Redaktion.Digitale Illustration erstellt mit Hilfe von KI (DALL·E) im Auftrag von La Dernière Cartouche. Verwendung nur mit Genehmigung der Redaktion.

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