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Papier zwischen Wänden –

Vom stillen Rückzug der Republik

Etienne Valbreton Siegel

✍️ Etienne Valbreton

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Geboren 1978 in Lyon, studierte Philosophie, Literatur- und Medientheorie in Straßburg, Weimar und Montréal. Lehrte an verschiedenen Kunsthochschulen, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Liebt den Geruch alter Buchdeckel, das Geräusch von Rolltreppen in stillen Bahnhöfen und die Lücken zwischen Gebäuden. Spricht selten – aber wenn, dann wie ein Nachsatz von Roland Barthes.

📂 Rubrik: Dunkelkammer
🗓️ Veröffentlichung: 26. März 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Hinweis des Herausgebers

In einer Zeit, in der die Lautstärke über die Tiefe siegt und selbst Stille zur Verdächtigen wird, richten wir den Blick auf einen Ort, der einst Tempel der Konzentration war: den Lesesaal.
Étienne Valbreton nimmt uns mit in eine Welt, in der Räume nicht nur Kulisse, sondern Haltung waren – und erinnert uns daran, dass Denken nicht im Lärm gedeiht, sondern in der Fähigkeit, auszuhalten, was nicht sofort antwortet: die Stille.

Es beginnt mit einem Geräusch, das fehlt. Dem Blättern. Dem leisen Husten in einer Ecke. Der Körperhaltung eines Lesenden, halb versunken, halb wach – in einem Licht, das weder fordert noch blendet.
In den Lesesälen der alten Bibliotheken – jenen aus Stein, aus Eiche, aus Staub – war diese Stille kein Mangel. Sie war Form. Sie war Republik.

Heute gleicht der Gang durch viele öffentliche Bibliotheken einem Parcours durch eine Erlebniswelt. Flexible Möbel, offene Gruppenräume, Cafézonen mit WLAN und Kinderbereich. Der Lesesaal – dieser ehemals sakrale Raum der Versenkung – wird aufgelöst in Zonen, in Module, in bunte Inseln der Aufmerksamkeit. Die Bücher stehen nicht mehr im Zentrum, sie flankieren – wie nostalgische Kulissen einer Vergangenheit, die uns zu viel Geduld abverlangte.

Doch was sich in der Architektur dieser Räume zeigt, ist mehr als ein Designtrend. Es ist Ausdruck eines tiefer liegenden kulturellen Wandels. Raum wird nicht mehr als Träger von Bedeutung gedacht, sondern als Fläche der Nutzung. Der Gedanke, dass ein Ort auch eine Haltung formt, gilt als überholt – dabei war es gerade die strukturelle Strenge alter Lesesäle, die das Denken in Bahnen lenkte. Nicht durch Zwang, sondern durch Stille. Durch Aufmerksamkeit, die nicht eingefordert, sondern ermöglicht wurde.

Man hat vergessen, dass Demokratie auch Raum braucht. Nicht nur Meinungsfreiheit, sondern das Recht auf Konzentration. Dass Denken oft in der Stille beginnt – nicht im Austausch, sondern im Aushalten.

Es ist nicht der Verlust von Bildung, den wir beklagen sollten. Es ist der Verlust der Bedingungen, unter denen Bildung geschehen kann. Der verschwundene Lesesaal ist ein Symptom: der Rückbau jener architektonischen Demut, die das Denken ernst nahm. Heute soll alles funktionieren – aber nichts darf stillstehen. Schon gar nicht der Mensch.

Die Republik hat ihre Stimme nicht verloren.
Sie hat nur verlernt, zu schweigen.

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Es beginnt mit einem Geräusch, das fehlt. Dem Blättern. Dem leisen Husten in einer Ecke.