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Wie lässt sich Wahrheit rekonstruieren, wenn alle glauben, sie hätten sie schon?
Ein Essay von Étienne Valbreton
Rubrik: Chambre Noire / Philosophie & Gegenwart
„Wahrheit ist das, was sich dem Willen entzieht.“ – Simone Weil¹
Die Wahrheit, sagte Paul Valéry², sei das, was sich nicht erfinden lässt. Ein Satz, der heute fast anmaßend klingt, denn die Gegenwart hat gelernt, alles zu erfinden – auch die Wahrheit. Wir leben in einer Epoche, in der jeder Diskurs sein eigenes Zentrum ausruft, jede Gruppe ihr eigenes Maß, jede Stimme ihre eigene Evidenz. Der Streit gilt heute nicht mehr den Dingen selbst, sondern ihrer Deutung: Jeder zieht am Sinn, bis er reißt. Wahrheit ist zur Masse geworden, überreich und dadurch unkenntlich.
Wer daran zweifelt, braucht nur den Blick in die digitalen Spiegelräume zu werfen. Dieselbe Szene, derselbe Satz, dieselbe Zahl – und daraus entstehen fünf völlig verschiedene Wirklichkeiten. Ein Tweet, der von der einen Seite als Beweis gilt, wird von der anderen als Manipulation gedeutet³. Die Frage ist nicht mehr, was geschehen ist, sondern wie man es zu lesen hat.
In der ersten dominiert das Gefühl: die affektive Wirklichkeit, in der Empörung und Zustimmung die Stelle der Analyse einnehmen.
Die zweite ist ideologisch: Fakten dienen nicht mehr der Prüfung, sondern der Bestätigung der eigenen Zugehörigkeit.
Die dritte ist ökonomisch: Algorithmen und Aufmerksamkeitsmärkte bestimmen, was sichtbar und damit wirklich erscheint.
Die vierte ist narrativ: Geschichten, nicht Tatsachen, verleihen Bedeutung – die Wirklichkeit folgt der Dramaturgie.
Und die fünfte ist wissenschaftlich-technisch: Sie beansprucht Objektivität, wird aber zugleich misstrauisch beäugt; ihre Daten gelten vielen als Wahrheit und Täuschung zugleich. Wir glauben den Zahlen, doch wir trauen den Händen nicht, die sie erzeugen. Zwischen Vertrauen in die Methode und Angst vor der Maschine entsteht eine neue Form der Verwirrung: Daten werden geglaubt wie Orakel, angezweifelt wie Prophezeiungen.
Fünf Wirklichkeiten, die nebeneinander bestehen, sich überschneiden und entwerten. Wahrheit zerspringt nicht an der Lüge, sondern an der Überfülle ihrer Abbilder.
Doch wie lässt sich etwas rekonstruieren, das nie ganz war? Wahrheit war nie Besitz, sondern Beziehung: zwischen Beobachter und Welt, zwischen Wort und Sache, zwischen Erfahrung und Gedächtnis. Was wir verloren haben, ist nicht die Wahrheit selbst, sondern die Fähigkeit, sie als gemeinsame Arbeit zu begreifen.
Heute wird sie ausgerufen wie ein Eigentumstitel. In den digitalen Arenen schreien alle zugleich: Ich habe sie, ich kenne sie, ich verteidige sie. Das Ergebnis ist ein Stimmengewirr ohne Tonhöhe, in dem jede Stimme für sich allein Recht behält, solange sie laut genug ist. Wahrheit gilt durch Bekenntnis, nicht mehr durch Prüfung⁴. Sie wird verkündet, bevor sie entdeckt wird. Die Formel des Jahrhunderts lautet: Ich fühle, also ist es wahr.
Wie also rekonstruieren, was so verflüchtigt ist? Vielleicht, indem wir die Wahrheit wieder vom Subjekt trennen. Wahrheit hat die Gestalt eines Weges. Sie lässt sich gehen, nicht besitzen. Ihr Ziel ist kein Sieg, sondern das Verstehen selbst.
Rekonstruktion meint keine Rückkehr zu einem verlorenen Zustand, sondern eine Form von Wahrheitsarbeit: die bewusste Prüfung der eigenen Wahrnehmung im Austausch mit anderen⁵. Sie steht dem kommunikativen Handeln bei Habermas nahe, zielt jedoch weniger auf Konsens als auf Bewusstheit.
Rekonstruktion verlangt Demut. Sie beginnt mit der Einsicht, dass man nur Fragmente in den Händen hält: Splitter aus Diskursen, Bilder, die nicht mehr sprechen, Daten, die zu laut sind. Wahrheit wächst dort, wo das Ohr für das Leise offen bleibt, wo Zweifel eine Stimme haben und Zuhören Denken wird.
Vielleicht beginnt diese Wahrheitsarbeit dort, wo eine Antwort länger braucht als eine Reaktion. Wer auf einen digitalen Angriff nicht sofort reagiert, sondern prüft, ob das Gesagte trägt, betreibt bereits die einfachste Form dieser Arbeit. Zuhören heißt hier, den Reflex zu unterbrechen, Denken in den Sekundenbruchteil zu legen, der sonst Empörung wäre.
Doch Zuhören ist keine Flucht aus der Öffentlichkeit. Es ist eine Haltung, die gerade inmitten des Lärms praktiziert werden muss: das Gespräch offen zu halten, selbst dort, wo die Worte schwerfällig werden. Wahrheit wird im Widerstand gegen die Versuchung geboren, nur das Eigene zu hören.
Der Historiker, der Archäologe, der Richter, der Arzt – sie alle arbeiten mit Spuren. Sie wissen, dass die Spur nie identisch ist mit dem Geschehen. Ihre Kunst besteht darin, aus Spuren Sinn zu gewinnen, ohne sie zu verraten. Wahrheit in diesem Sinn ist kein Zustand, sondern eine Praxis der Aufmerksamkeit⁶.
In der Kunst lässt sich diese Haltung noch finden. Das wahre Bild ist nicht das, das recht hat, sondern das, das offen bleibt. Ein Gemälde, das uns zwingt, genauer hinzusehen, lehrt mehr über Wahrheit als ein Leitartikel, der uns erklärt, was wir zu denken haben.
Byung-Chul Han beschreibt unsere Gegenwart als Transparenzgesellschaft, in der alles sichtbar, aber kaum noch wahr ist⁷. Wahrheit aber braucht Opazität – das Recht, nicht alles zeigen zu müssen. Wie Sloterdijk anmerkt, kennt die Aufklärung ihren eigenen Zynismus⁸; sie weiß alles und glaubt nichts. Wahrheit dagegen verlangt Glauben ohne Besitz – die Bereitschaft, zu vertrauen, ohne zu verfügen.
Rekonstruktion bedeutet, die Fähigkeit zur Wahrheitsarbeit zurückzugewinnen. Sie verlangt drei Tugenden: Gedächtnis, Kritik und Schweigen. Gedächtnis heißt, sich auch an das Unbequeme zu erinnern; Kritik heißt, den eigenen Maßstab zu prüfen, bevor man urteilt; Schweigen heißt, die Pause auszuhalten, in der etwas Neues Gestalt gewinnt⁹.
Diese Tugenden lassen sich leben, auch außerhalb der Philosophie. Im Alltag heißt es: Informationen prüfen, Widerspruch zulassen, das eigene Urteil nicht verabsolutieren. In der Politik: die Langsamkeit der Argumente gegen die Hast der Parolen zu verteidigen. In der Bildung: Räume zu schaffen, in denen Denken nicht auf Zustimmung angewiesen ist. Wahrheit lebt von der Übung: Geduld im Denken, Gehör für den Anderen, Mut zum Zweifel.
„Wer glaubt, die Wahrheit schon zu besitzen, hört auf, sie zu verdienen.“
Vielleicht ist das die letzte Form der Aufklärung, die uns bleibt: die Wahrheit nicht zu verkünden, sondern sie immer wieder zu suchen – gegen Bequemlichkeit, gegen die Verführung der Eindeutigkeit, gegen das süße Gift der moralischen Gewissheit.
Man könnte einwenden, dass Wahrheit sich nicht im Gespräch, sondern in der Widerlegung erprobt. Popper sah in jeder Erkenntnis eine vorläufige Hypothese, Foucault in jeder Wahrheit ein Machtgefüge. Beides stimmt: Wahrheit bleibt stets befristet – durch Irrtum, durch Geschichte, durch den Blick des Anderen. Gerade deshalb muss sie als Bewegung gedacht werden, nicht als Besitz.
- Simone Weil, La pesanteur et la grâce, Paris 1947.
- Paul Valéry, Tel Quel, Paris 1943.
- Beispielhafte Beobachtung sozialer Medien, vgl. Reuters Institute, Digital News Report 2024.
- Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949.
- Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981.
- Hannah Arendt, Truth and Politics, The New Yorker, 1967.
- Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2012.
- Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt 1983.
- Étienne Valbreton, Les Ombres du visible, Paris 2023.

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