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Von Fisch, Fleisch und Sprache
Vage Konzepte aus der Politik | La Dernière Cartouche
Was haben Olaf Scholz und ein französischer Präsident gemeinsam? Scholz überschätzte die Schweigsamkeit, eine Haltung, die womöglich als eigene Coolness angelegt war. Seine Methode hat sich als wirkungslos erwiesen. François Mitterrand ist in seiner Eigenschaft als präsidial stoische “Sphinx” in die Geschichte eingegangen. Er hat sie erheblich mehr geprägt als Scholz und wird allgemein unterschätzt. So viel zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden.
Bei Friedrich Merz ist alles ganz anders. Der haut öfters mal einen raus. Und hat bisweilen Schwierigkeiten, den sprachlichen Boomerang dann wieder einzufangen. Zuletzt ist ihm geradezu ein Coup mit dem Statement vom Stadtbild gelungen. Das Konzept war inhaltlich unscharf angelegt. Man sprach im Anschluss von einer interpretationsoffenen Aussage. Wer aber interpretationsoffen argumentiert, muss mit einem Sturm von Auffassungen rechnen. Das ist eine Binse.
In der Sprachwissenschaft geht es gelegentlich sehr lustig zu. Es gibt eine oft zitierte Anekdote von einem Bauern, der gefragt wurde, was ein (ihm unbekanntes) Fremdwort bedeutet. Die Antwort war in meiner Übersetzung: “Das ist etwas innerhalb eines Schweines. Ich weiß aber nicht genau, was.”
Und dann gibt es in der Linguistik auch viele Geschichten zu Missverständnissen und vagen Bedeutungsfeldern. Bedeutung ist sehr schwer zu fassen. Man kann sie auf unterschiedlichste Weisen erklären. Eine davon ist die Aspektanalyse.
Nehmen wir den Begriff Tisch. Er hat meist vier Beine, kann als Holz, Metall oder Plastik hergestellt werden, ist gegebenenfalls zusammenlegbar, kann ein großes oder kleines Modell sein.
Beim Fisch (er unterscheidet sich vom Tisch in nur einem Laut, man nennt die beiden dann Minimalpaar) liegt das Folgende vor: Lebewesen, unter Wasser, atmet durch Kiemen, besitzt Flossen, Schuppen, legt Eier (w), produziert Samen (m), ist sofort nach dem Schlüpfen auf sich selbst gestellt.
Nun gibt es in der Sprache so genannte hedges (den Begriff prägte der große Linguist George Lakoff 1972). Mit diesen Ausdrücken kann man Aussagen abmildern und ungenauer machen. Ein Beispiel: Ein Wal ist eine Art von Fisch. Diese Aussage verwischt das Fischkonzept und beleuchtet nur einige Eigenschaften davon (im Wasser lebend, Flossen) des Ausgangskonzeptes. So ginge ein Wal als Säugetier trotzdem noch als Fisch durch. Als eine Art davon. Irgendwie. Die juristische Sprache zeigt am anderen Extrem, wie weit die Präzision der Formulierung gehen kann.
Was hat Friedrich Merz mit dem Stadtbild angerichtet? Hat er das Konzept mit diesem “Problem” darin bewusst offengelassen? Im Sinne des alten, aber in diesem Falle vielleicht griffigen Behaviourismus gleicht die öffentliche Debatte für den Beobachter einmal wieder dem bekannten Reiz-Reaktions-Schema. Man setzt einen verwaschenen Input, in einer Black Box entstehen Interpretationen, oftmals fühlen sich Leute angesprochen, die gar nicht gemeint waren.
Unterstellen wir Merz hier keinen bösen Willen. Mein Traumkandidat war er nicht, ich möchte ihm allerdings auch nichts Unbelegtes andichten.
Thematische Überschrift war das Thema Migration. In diesem Zusammenhang (Sprache wird in der Philosophie gelegentlich als System gesehen, dessen Teile nur im sprachlichen Bezugsrahmen funktionieren) führte Merz direkt von der Einwanderung zu Stadtbild und Problem.
Wer Migration und Schwierigkeiten so flugs wie verantwortungslos zusammenbringt, muss damit rechnen, dass sich viele Menschen angesprochen fühlen, die im eigentlichen Sinne gar nicht gemeint waren. Insofern ließe sich Merz’ konturlose Aussage bestenfalls als äußerst ungeschickt und schlecht geordnet kritisieren.
Unmittelbar im Anschluss konnte ich eine Flut von TikToks sehen, sehr gut gekleidete, erfolgreiche, ansehnliche, arbeitende Leute mit Zuzugshintergrund, die sich nach meiner Einschätzung unbedingt angesprochen fühlen wollten, aber nicht gemeint waren.
Insofern ist Merz’ Aussage im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten losgegangen, aber auch nur, weil die Nerven ohnehin überall schon blank lagen.
Sieht man die gesellschaftliche Gegenwart als Erregungskollektiv (Sloterdijk 2006), und dafür gibt es wohl einige Belege, muss man wissen, was man anrichtet, ist man nicht mehr Oppositionsführer, sondern Kanzler (von allen).
Somit hat es Merz vermieden, mit dem Thema Migration auch das Folgende in Verbindung zu bringen: Eine mir bekannte Lehrkraft erzählt von Syrern, die ohne Deutschkenntnisse in die hiesige Schule gelangten und nach zwei Jahren den Landeswettbewerb für Mathematik gewannen.
Sie erzählt von Einwandererkindern, die in ihren Leistungen im Fach Deutsch manche ihrer hier geborenen Mitschüler nach zwei Jahren weit hinter sich ließen.
Was aber tut Merz? Er stellt die große Zahl an Einwanderern in der eigenen Partei ins Dunkel und blendet Erfolgsgeschichten aus, die erzählt werden müssen, um das Land wieder zu einem gemeinsamen Projekt werden zu lassen. Das aber hat das Land so dringend nötig.
Was hätte Merz ansprechen können und sollen? Zunächst verstören mich persönlich im Stadtbild die vielen Rentnerinnen und Rentner, aber auch jüngere Leute, die in Mülltonnen nach Pfandflaschen suchen, um sich ihr Budget aufzubessern. Hätte man mir dieses Bild 1990 gezeigt, ich hätte es nicht geglaubt.
Es verstören psychisch kranke Menschen wie Drogenabhängige (die Trinkerszene gehört für mich dazu), Unglückliche, Einsame, immer mehr Obdachlose.
Aber auch, und da wären wir vielleicht bei Merz’ Intention angelangt: Straßenzüge voller Müll, Krach bis in die Nächte, Kinder, die nicht in die Schulen gehen, Leute, die tagein und tagaus an Bahnhöfen und in den Zonen der Innenstädte lungern, irgendwelchen trüben Geschäften nachgehen und die man zu rein gar nichts gebrauchen kann.
Leute, sie sich in weitgehend leeren Straßenbahnen nach dem Einsteigen ausgerechnet neben die einzige junge Frau setzen, die sich allein auf der Zweierbank befindet, Leute, die in Notaufnahmen Ärztinnen und Pfleger beleidigen, Straße voller elender Spielotheken und Wettbüros (man hat sie nach der “Duldung” legalisiert, wozu?), Baustellen voller Subsubsubunternehmer, Schrottimmobilien, davor PS-starke Luxuskarossen, Häuser vollbesetzt von mafiösen Organisationen, die Anteile von Mieten und Zuwendungen als Serviceleistungen abkassieren, und das von Leuten, denen man als Binnenmigranten der EU in der Heimat das Blaue vom Himmel versprochen hat.
Das sind Orte, an denen sich Menschen nicht mehr wohlfühlen. Orte, an denen fast alle ausgebeutet werden.
Dazu gehören auch Einwanderer der dritten Generation, Türken, die offen Sympathien für die Blauen hegen, weil sie ihr Stadtbild nicht mehr wiedererkennen, die 50 Jahre malocht haben, um sich etwas aufzubauen.
Das muss man sich alles einmal vorstellen. Nicht umsonst sprechen Lokalpolitiker, auch solche der SPD, diese Dinge meist ungehört an. Nicht umsonst wählen die ärmsten Städte des Westens mittlerweile sehr viel Blau. Und das liegt daran, dass man den bewohnenden Menschen des Stadtbildes nicht mehr zuhört.
Mutige Politiker müssen sich diesen Dingen annehmen und sie klar adressieren. Da reicht nicht der Verweis auf die Töchter, welche man fragen soll. Mutige Politiker müssen sicherstellen, dass alle ihren Teil zum Gelingen beitragen.
Dazu gehört allerdings nicht, dass man CumEx-Ganoven laufen lässt, sich an nichts mehr erinnert und es mit der Steuer nur bei den kleinen Arbeitnehmern ernst nimmt, die jeden Tag den Job machen.
Dazu gehören mutiges Regieren, das Abarbeiten der Themen A, B, C etc. und das spürbare Durchsetzen von Regeln. Alles andere führt zu noch mehr Frustration.
Kommen wir am Ende zur Sprache zurück: klar durchdachte, präzise, interpretationsenge Rede ist Gebot der Stunde.
Rhetorisches Wischiwaschi haben wir die längste Zeit ertragen. Bei der Sprache wäre für den Kanzler, wie man so schön sagt, noch Luft nach oben.
Hoffen wir, dass er das nutzt. Er besitzt den Privatpilotenschein.





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