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Zu Pankaj Mishra: Die Welt nach Gaza, 2025

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Christof Sperl Autoren-Siegel

✍️ Christof Sperl

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📰 Medium: La Dernière Cartouche

Christof Sperl und seinen Artikel über Pankaj Mishra

In einer Zeit, in der geopolitische Konflikte die Welt weiterhin erschüttern, wagt sich der renommierte Kulturkritiker und Autor Pankaj Mishra in Die Welt nach Gaza (2025) an eine tiefgehende Analyse der Ursachen von Gewalt und Unterdrückung im Nahen Osten. Mishra verbindet dabei historische und postkoloniale Perspektiven, um die Wurzeln des Konflikts zu ergründen. Doch auch die Reaktionen auf dieses Werk werfen spannende Fragen auf – und genau diesen Fragen widmet sich Christof Sperl in seinem Artikel.

Sperl, Diplom-Romanist und Anglist, geht in seinem Beitrag auf Mishras Analyse des Gaza-Konflikts ein und hinterfragt die universelle Anwendbarkeit seiner postkolonialen Thesen. Dabei beleuchtet Sperl die kritischen Stimmen aus der westlichen Öffentlichkeit und diskutiert, inwieweit Mishras Perspektive den komplexen Konflikt umfassend abbildet. Während der Autor in seiner Auseinandersetzung mit den politischen und historischen Dimensionen des Konflikts oft auf Zustimmung stößt, rufen seine Vergleiche zwischen Gaza und anderen Formen der Unterdrückung – wie der Apartheid oder dem US-amerikanischen Rassismus – auch kontroverse Reaktionen hervor.

In diesem Artikel stellt Sperl die Wirksamkeit von Mishras Argumenten infrage, beleuchtet die unterschiedlichen Rezeptionen des Werks und hinterfragt, wie Mishra selbst den westlichen Umgang mit historischen Erinnerungen und aktuellen geopolitischen Machtverhältnissen kritisch bewertet.

Es könnte naheliegen, die Kritik des Soziologen W.E.B. Du Bois (1868-1963) an der US-amerikanischen Gesellschaft mit ihren noch heute scharf trennenden Mechanismen auf weitere Teile der Welt auszuweiten. So könnte man prüfen, ob ihnen universale Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die auf kulturelle Konflikte außerhalb der amerikanischen Bedingungen anwendbar sind. Der preisgekrönte Autor und Kulturkritiker Pankaj Mishra tut unter anderem genau das. Ob es ihm gelingt und inwieweit seine Ergebnisse für den Nahen Osten gültig, nachvollziehbar und vernünftig sind, soll Gegenstand dieser Einordnung sein. 

Mishra (*1969 in Jhansi, Indien) hat durch seine bisherigen Arbeiten (beispielsweise in Zeitalter des Zorns: 2017) gezeigt, dass ihm die Themen Krieg, Hass und Gewalt, also genau die Entwicklungen, welche gegenwärtig den Planeten aufs Neue bedrohlich überziehen, ein dringendes Anliegen und alles andere als unwichtig sind. Seien es Terroranschläge des IS, übersteigerter Nationalismus, Rassismus, frauenfeindliches Gift in den Netzwerken, Amokfahrten in den Innenstädten, Mishra sucht nach Ursachen und Gründen für zerstörerische Kräfte. Insofern müssen die vielen Versuche fehlschlagen, ihm vorzuwerfen, das furchtbare Blutvergießen, die Morde, Vergewaltigungen und Geiselnahmen des 7. Oktober 2023 im Lichte des Gaza-Konfliktes ausblenden und verdrängen zu wollen. Und seinen sie nur deshalb reflexhaft erhoben, weil Mishra kritisch über die Welt nach Gaza schreibt. Vielleicht hat Mishra gerade diese Präposition geführt, weil es Gaza in seiner derzeitigen Form nach allem bald gar nicht mehr geben könnte. 

Im seinem neuesten Buch Die Welt nach Gaza (2025) geht es um die historischen Entwicklungen, die zum immerwährenden Konflikt um diese Region geführt haben, und absehbar noch lange führen werden.  Die Flut von Blickwinkeln, die Menge an Material, die Mishra in seiner Arbeit heranschafft, macht perplex und neugierig. Ich lese mit Bleistift, merke stets an, notiere. Mein Exemplar war nach der knappen Woche Durcharbeit mit Strichen und Anmerkungen vollgeschrieben. Ein eher seltenes Phänomen in meiner Lesewelt – und auch nur dann anzutreffen, wenn Texte ungemein bewegend sind. Sicher, ich war nicht mit allem einverstanden, wie sollte das auch sein? Bücher sind Lehrstücke, liefern Facetten der Betrachtung, die man sich zu eigen machen kann, aber nicht muss. Dazu am Ende mehr. 

Gewalt ist für Mishra eine Katastrophe, die, was den Nahen Osten anbelangt, Ursachen hat, die vor allem im postkolonialen Denken und dessen Strukturen zu betrachten sind. Wo wir schon bei der zweigeteilten öffentlichen Kritik angelangt wären, die ihm eine unparteiische Haltung in Teilen nicht unbedingt glauben will. Die Berliner taz schreibt von einer “Giftigen Dröhnung”, das Buch blende aus, was der postkolonialen Lesart widerspreche. Das Parlament sieht im Buche eine “Abrechnung”. 

Die NZZ, zurückschreckend, schon aufgrund ihrer behäbig bewahrenden DNA hochallergisch gegen den Begriff des Postkolonialismus überhaupt angelegt, schreibt von “schlechten Büchern”, die zwar  informativ, spannend und lehrreich sein könnten, Mishras sei so eines, sein Werk stelle alles in allem jedoch vorwiegend ein “Kompendium postkolonialer Weltwahrnehmung” dar, eine Sicht, die dieses gravitätisch traditionsbekümmerte Publikationsorgan also niemandem verantwortungslos anvertrauen möchte.  

Eine Kritik des ORF anerkennt immerhin die “Notwendigkeit einer multiperspektivischen Erzählung”, während Matthias Bartsch vom dlf  immerhin die Teilnahmslosigkeit des Westens gegenüber dem Leid in Nahost schildert, wo alle Bemühungen der Befriedung scheitern, beklagt er bei Mishra “fragwürdige und ärgerliche Stellen”. 

In der Tat ist es für zahlreiche Beobachter hochproblematisch, den unerhörten Vergleich Mishras zwischen Gaza, US-amerikanischem Rassismus, dem Warschauer Ghetto und südafrikanischer Apartheid mitzugehen. Für all diejenigen, die nicht direkt vom Konflikt betroffen sind, gilt allerdings auch die vom Autoren dutzendfach beschriebene Position israelischer und/oder jüdischer Humanisten, die in ihrer Weise selbst wiederholt scharfe Kritik am Staate Israels üben, der selbst, eine Binse, von vielen Seiten bedroht wird. Wie immer wir den Konflikt einschätzen wollen, sind diese Stimmen sicherlich hilfreich, das eigene Bild vom hochgerüsteten Streit um Gaza abzurunden. Stellvertretend für diesen Ansatz mag die Auffassung des linksliberalen Politikers Jair Golan von der Respektlosigkeit der Regierung stehen, für den die allgemeinen Regeln des Umgangs mit Füßen getreten würden.  

Immer wiederkehrend berichtet Mishra in seinem für mich auch sprachlich-literarisch beachtenswerten Werk das Bild des Politikers Mosche Dajan, dessen Konterfei einst in Mishras Jugendzimmer an der Wand hing. Bewunderte er zunächst noch diesen durchsetzungsfähigen Politiker mit der prägnanten Augenklappe, sollte er ihn im Verlauf der jüngeren Geschichte immer kritischer sehen. Mishras Bild des humanen Refugiums wandelte sich radikal. Die Konflikte innerhalb der Nahost- Geschichte laufen für Mishra entlang einer Farbenlinie (nach Du Bois The color line), die die Menschheit überall in “Weiße” und “Farbige” einteile, wobei die Weißen per se stets die Macht ausübten. Die Aufteilung würde somit vielerorts zur Konfliktlinie, somit auch im Nahen Osten. Mishra ergreift das Wort für die Unterdrückten des “Globalen Südens”, die sich im Rahmen eines solidarischen Befreiungskampfes ihre Rechte erobern müssten. Hier wird das Buch kämpferisch. Der Begriff des “Globalen Südens” ist mir selbst zu grobschlächtig und subsumiert zu viele unterschiedliche Kulturen unter dieser fragwürdig obskuren Betitelung. Mishra untermauert seine These der Farben mit einer faszinierenden Fülle an Detailwissen, die ihresgleichen sucht, mitunter aber auch dazu führt, lediglich eine äußerst negative Sicht der israelischen Gegebenheiten zu betonen. Ich hätte mir gewünscht, dass Mishra neben den ubiquitären Verweisen auf eindeutig rechtsradikale Mitglieder der Regierung auch auf die bedeutenden Bewegungen innerhalb der israelischen Bevölkerung eingeht, die fast täglich auf Demonstrationen für ein Ende des Konfliktes und die Befreiung der noch lebenden Geiseln und gegen die Gnadenlosigkeit in Teilen der Regierung eintritt. Die jüngsten Nachrichten und deren westliches Beschweigen aber lassen verstärkt daran zweifeln, dass sich die Vernunft durchsetzen wird. Wir kennen wahrscheinlich alle ein paar Zitate, welche der Hoffnung auf Entspannung vehement widersprechen. 

In meinem langen Berufsleben habe ich Palästinenser und Israelis als Kollegen kennen und schätzen gelernt, die mir ihre Sicht der Dinge nahegebracht haben. Vor nicht allzu langer Zeit war ich zu einem Treffen unter engen Freunden und Bekannten eingeladen, das an einer Stelle zu eskalieren drohte. Eine Person aus dem Bekanntenkreis (nur wenige hatten dies gewusst) war direkt von den Ereignissen des 7. Oktober betroffen, und es war der Beginn eines politischen Streits entstanden. Einem anwesenden Lehrer gelang es, in seiner professionell-pädagogischen Art, den Konflikt zu entschärfen. Ein Beleg für die unmittelbare Betroffenheit, die uns auch in Deutschland, nicht nur aufgrund von Migration und jüngerer Geschichte, immer wieder auf Schritt und Tritt begleiten, auch einholen muss. An dieser Stelle angelangt, ist es Zeit zu beschreiben, was Mishra Deutschland gelegentlich vorwirft. Denn über weite Strecken geht es in diesem Buch auch um unsere eigene, jüngste Geschichte, die ein Herr Gauland vor einiger Zeit in Teilen zu schmälern versucht hat. Hier, im Verhältnis zu Deutschland, wird der indische Autor mit seiner außergewöhnlichen, fernen Sicht für uns hoch spannend. Mishra gelingt es nämlich zu erklären, wie wir nach einer pro-forma-Entnazifizierung, die sich nie wirklich als kathartische Kraft geriert hat, die Erinnerung an die Shoah auch in Ritualen und Selbstgenügsamkeit erstarrt ist. Hätte es Figuren wie Fritz Bauer nicht gegeben, noch weniger Täter wären tatsächlich verurteilt worden, noch mehr davon hätten in Justiz und Politik der jungen Bundesrepublik ihre Karriere gemacht. Familien verschweigen Mittäterschaften bis heute (aktueller Titel SPIEGEL Nummer 19/25: “Das deutsche Tabu”). Die Erinnerungskultur diene uns nach Mishra dazu, jede eigene Schuld bequem abzustreifen, indem wir uns mit den Guten verbunden hätten – und deren Handlungen, auch die aktuellen, zu unkritisch sähen und dabei das Leid der nicht mit der Hamas verbundenen, hilflosen Bewohner Gazas ausblendeten. Mit der bundesrepublikanischen Bewältigungsstrategie vergleichbar gegliedert sei auch die Sicht in Israel, einem Land, welches die Shoah als unbewegliches, fast religiös zu nennendes Mindset einsetze, ohne die Frage danach zu stellen, wie man eigentlich für die Zukunft gerecht, friedfertig und human werden könne. Alte weiße Männer werden dies starken Tobak nennen dürfen.  

Von der extremen Rechten in Deutschland ist im Zusammenhang mit Mishra und zu Nahost bisher wenig zu hören gewesen. Das mag darin begründet liegen, dass das Spannungsquadrat zwischen Trump und seiner Außenpolitik, der überwiegenden Ablehnung des Islam, spezifisch deutscher Geschichte und rechter Tradition des Antisemitismus zu widersprüchlich angelegt ist.  

Zahlreich sind die Belege Mishras, namhafte, aber auch ungehörte Autoren und Unterstützer der israelischen Sache, wie die Philosophin Hannah Arendt (wir erinnern uns an ihre dramatische Beziehung zu Heidegger) oder den Chemiker und Schriftsteller Primo Levi, und seiner Auschwitz-Erfahrung. Beide waren mir bisher als historisch Beschreibende bekannt gewesen. Mishra aber zitiert Quellen, aus denen sich ihre sehr kritische Haltung gegenüber der Gaza-Politik Israels erkennen lässt, und in unserer öffentlichen Debatte kaum wahrnehmbar ist. Sie stehen damit nicht allein. Mishra hat akribisch alles zusammengetragen, was für seine Argumente hilfreich war, allein das Register (ohne weiterführende Literatur) umfasst acht sehr eng bedruckte Seiten, was jeden Versuch einer umfassenden Darstellung unmöglich macht.  Wie beschrieben: Manche Kritiker werfen Mishra vor, zu viel von dem ausgeblendet zu haben, was seine Sache nicht unterstütze. Andere mögen dankbar sein für die Fülle an Denkanstößen, die das Werk liefert, wenn man denn öffentlich darüber spricht. In jedem Fall aber lohnt eine Sicht von außerhalb der westlichen Blase, in der wir uns vielleicht zu oft und überzeugt bewegen.  

Für meinen alten Linguistikprofessor gab es für die Wissenschaft kaum Irrelevantes. Die Denkmuster müssten immer wieder neu geprüft werden. Man solle auch das lesen, was man nicht für richtig hielte. Wissen mache niemals halt – und müsse regelmäßig revidiert werden. Wissenschaftsgeschichte nähme man so ernst wie die eigene Disziplin selbst. Wissen entwickele sich (nach Kuhn) in Paradigmenwechseln, ein Ende sei nicht absehbar, die Erkenntnisse von heute seien die Irrtümer von morgen. Sein motivierender und begeisternder Lieblingsspruch bildet zugleich die Überschrift dieses Textes. Wie wahr er ist. 

In einer frühen Fußnote (im Hardcover auf Seite 30) gibt Mishra an, dass der Vortrag, auf dem das besprochene Buch basiert, vom Londoner Barbican Centre abgesagt wurde. Auch musste der Autor seine außenpolitische Kolumne bei Bloomberg, die er ein Jahrzehnt lang schrieb, aufgeben. Warum bloß?

Pankaj Mishra

Pankaj Mishra

Pankaj Mishra – Autorbeschreibung

Pankaj Mishra (*1969 in Jhansi, Indien) ist ein renommierter indischer Essayist, Romancier und Literaturkritiker, der für seine tiefgründigen Analysen der globalen politischen und kulturellen Landschaft bekannt ist.

Nach seinem Studium der englischen Literatur an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi zog er 1992 in das Himalaya-Dorf Mashobra, wo er begann, literarische Essays und Rezensionen zu verfassen.

Sein erstes Buch, Butter Chicken in Ludhiana: Travels in Small Town India (1995), war ein Reisebericht, der die sozialen und kulturellen Veränderungen in Indien im Kontext der Globalisierung beschrieb.

Sein Debütroman, The Romantics (2000), eine ironische Erzählung über Menschen, die Erfüllung in anderen Kulturen suchen, wurde in elf europäischen Sprachen veröffentlicht und gewann den Los Angeles Times Art Seidenbaum Award für Debütromane.

Mishras Sachbuch From the Ruins of Empire: The Intellectuals Who Remade Asia (2012) wurde mit dem Crossword Book Award ausgezeichnet und beleuchtet die Reaktionen asiatischer Intellektueller auf den westlichen Imperialismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Sein Werk Age of Anger: A History of the Present (2017) untersucht die Ursprünge der gegenwärtigen Welle von Hass und Gewalt und analysiert die Auswirkungen der westlichen Aufklärung auf die moderne Welt.

Für seine Beiträge zur Literatur wurde er 2008 in die Royal Society of Literature aufgenommen und 2014 mit dem Windham-Campbell Literature Prize in der Kategorie Sachbuch ausgezeichnet.

Neben seinen literarischen Arbeiten ist Mishra ein gefragter Kolumnist und hat Essays für renommierte Publikationen wie The New York Times, The New Yorker, The Guardian und The New York Review of Books verfasst.

Seine Schriften zeichnen sich durch einen interdisziplinären Ansatz aus, der Geschichte, Philosophie und Politik miteinander verbindet, um die komplexen Dynamiken der modernen Welt zu beleuchten.

Aktuell lebt Pankaj Mishra sowohl in London als auch in Indien und arbeitet an neuen literarischen Projekten.

Quellenangaben:

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