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Das Berlaymont als Burg
Europas Rückkehr ins Mittelalter
ein Essay on Pierre Marchand
„Für das Verständnis unserer heutigen Identität gibt es im Mittelalter wesentliche Elemente. Sie ermöglichen es, uns besser auf das vorzubereiten, was die Fortsetzung der Geschichte ist, die kein Historiker kennen kann: die Zukunft.“
– Jacques Le Goff
Brüssel gleicht in diesen Monaten weniger einer Hauptstadt der Aufklärung als einer Ansammlung befestigter Machtinseln. Seit Ursula von der Leyen 2019 in den dreizehnten Stock des Berlaymont eingezogen ist, hat sich das Zentrum der Europäischen Union in eine Art administratives Kastell verwandelt. Die Präsidentin will die Union regieren, aber nicht mit ihr leben. Hinter Panzerglas und Protokollschleusen, abgeschirmt von Presse und Kollegium, führt sie eine Regierung der Stille – ein System aus Kontrolle, Misstrauen und Hierarchie. Jean Quatremer nannte das einst „von der Kommission Juncker zur Kommission Bunker“.
Ein Bericht von Euractiv beschreibt nun die jüngste Volte dieses Rückzugs. Selbst Kommissaren und Generaldirektoren sei der Zugang zu ihrer Präsidentin faktisch versperrt. Von „purpurnen Fahrstühlen“ ist die Rede, die wie Reliquien aus byzantinischen Palästen wirken. Von der Leyen ließ sich ihre Etage auf eigene Kosten zu einem privaten Penthouse umbauen – was sie nicht daran hindert, zusätzlich eine monatliche „Unterbringungspauschale“ zu beziehen, die sich über ihre Amtszeit zu rund einer halben Million Euro summiert. Der Vorgang ist kein Skandal mehr, sondern Routine.
Wer in Brüssel Macht besitzt, zeigt sie nicht in Reden, sondern in Zugangsprotokollen. Die eigentliche Schaltzentrale liegt längst nicht mehr bei den Kommissaren, sondern in den Büros ihrer Kabinettschefs. Allen voran Björn Seibert – ein Mann, den kaum jemand kennt, dessen Unterschrift jedoch die politische Topographie Europas verändert. Er ist der Hausmeier der Gegenwart: loyal, unsichtbar, unersetzlich. Wie einst unter den Merowingern werden die sichtbaren Herrscher zur Fassade, während die wahren Entscheidungen in der Schattenverwaltung fallen.
Diese Struktur, halb höfisch, halb technokratisch, produziert eigene Fehden. Zwischen Ursula von der Leyen und der Außenbeauftragten Kaja Kallas schwelt ein Kampf, der an die Rivalitäten spätkarolingischer Fürstinnen erinnert. Kallas soll erwägen, den früheren Kabinettschef Jean-Claude Junckers, Martin Selmayr, in einen neugegründeten Direktorenposten zurückzuholen – ein Schachzug von exquisiter Provokation. Selmayr, das „Monster des Berlaymont“, war einst allmächtig und wurde nach seiner Entmachtung in den Vatikan abgeschoben, was in Brüsseler Symbolik einer öffentlichen Schur gleichkam. Nun kehrt der verstoßene Hausmeier zurück und bringt Bewegung in den Burgfrieden.
Währenddessen verschanzt sich das aktuelle Duo – von der Leyen und Seibert – weiter hinter den Glaswänden der Macht. Der politische Diskurs schrumpft zur Verwaltung, die Verwaltung zur Liturgie. Wie im Frühmittelalter, als Burgen sowohl Heim als auch Bastion waren, dient der Berlaymont-Turm nicht mehr der Kommunikation, sondern der Abschottung. Abdankung, einst Königsdisziplin, ist in Brüssel keine Kategorie mehr.
Und doch feiert man sich. Die Kommission hat eine Ausschreibung veröffentlicht, die selbst den römischen Hof erröten ließe: eine Jahresfeier für 1500 Geladene, Budget knapp eine halbe Million Euro. Ein Abend mit Champagner, Canapés, Musik und Medaillen – Beamte ehren Beamte für ihre Treue zu einem System, das sich von der Öffentlichkeit längst gelöst hat. In den Mitgliedsstaaten wird gespart, in Brüssel dekoriert. Der Prunk des Apparats erinnert an jene spätantiken Gastmähler, die Johannes Fried als „Schaustellung goldener Prunkwaffen, üppiger Tafeln und zwingenden Terrors“ beschrieb.
Das Frankenreich des achten Jahrhunderts verfiel nicht durch äußere Feinde, sondern durch Selbstvergessenheit. Es verlor, was Fried den „Scharfsinn des methodisch kontrollierten Denkens“ nannte. Heute wiederholt sich die Bewegung in anderem Kostüm: In der Sprache des Managements, in den Ritualen der Technokratie, in der geistigen Verarmung eines Apparats, der seine eigenen Zeremonien für Politik hält.
Der letzte Merowinger, Childerich III., wurde nach seiner Entmachtung geschoren und ins Kloster verbannt. Von der Leyen wird kein Kloster finden, aber vielleicht eine Beratungsfirma. Die Parallele bleibt: Wer Macht als Besitz versteht, verliert sie an ihre Diener. Das Berlaymont steht, wie einst die karolingischen Burgen, nicht mehr für Europa, sondern für den Versuch, Geschichte aufzuhalten.
Wenn Geschichte sich wiederholt, dann nicht als Farce, sondern als Verwaltungsvorschrift.
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© Bildrechte: La Dernière Cartouche / LdLS
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Großartiger Text. Und doch: Allzu Menschliches. Eitelkeiten und Gockeleien. Im Angesicht der Krise in der End-Moderne. Ganz persönlich gesehen ist es mir ohnehin seit Jahren suspekt, wenn eine Frau mit exzellender Ausbildung (eine Ärztin) in ihrem edlen Beruf nicht dort arbeitet, wo sie gebraucht wird. Am Krankenbett. Wozu Biochemie, Physiologie, Klinik, Physikum und härteste Prüfungen ablegen, um sich in der Folge in Palästen zu verschanzen?