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La ruine glorieuse

Das Erbe der Bergleute von Creutzwald

Pierre Marchand Sceau de Presse

✍️ Pierre Marchand

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Pierre Marchand schreibt für La Dernière Cartouche über imperiale Linien, tektonische Verschiebungen und die wahren Bewegungen hinter den Flaggen. Er ist kein Kommentator, sondern Chronist – nicht von Ereignissen, sondern von Zusammenhängen. Geprägt von der Schule Scholl-Latours, denkt er kontinental, schreibt verdichtet und urteilt nie schneller, als er recherchiert. Marchand war lange als Auslandskorrespondent in Algerien, Jugoslawien, der Sahelzone und zuletzt in der Osttürkei unterwegs. Er glaubt nicht an Verschwörungen – aber an Interessen. Und an das Gedächtnis der Geographie.

📂 Rubrique : Dunkelkammer
🗓️ Publication : 23. März 2025
📰 Média : La Dernière Cartouche

Ein Dossier von Pierre Marchand

Manchmal bleibt nur das Echo. Kein Ruf, kein Gesang, nur das Nachhallen von Stimmen, die längst verstummt sind. Creutzwald ist einer dieser Orte, an denen das Vergangene nicht endet, sondern weiterglimmt – wie ein Glutnest unter verschütteter Erde. Hier, an der französischen Peripherie, zwischen grünen Hügeln und rostenden Zäunen, liegt das Skelett einer Epoche. Nicht als Denkmal, sondern als Verwundung.

Das Gelände der ehemaligen Kohlegrube „La Houve“ in Creutzwald ist heute still. Die Fördertürme sind verschwunden, die Maschinen ausgebaut, der Lärm verklungen. Doch wer mit offenem Blick durch das Terrain geht, erkennt mehr als Ruinen. Man erkennt Spuren. Eingeschlagene Wege im Staub. Fenster, die nichts mehr zeigen. Und Mauern, die nicht gefallen sind – obwohl sie längst gefallen sein müssten. Diese Stille ist kein Frieden. Sie ist das Zögern der Geschichte, sich selbst zu vergessen.

Die Grube war einst eine der letzten aktiven Bergwerke Frankreichs. 2004 wurde sie geschlossen – mit Würde, wie man sagte. Mit Ritualen, mit Reden, mit Tränen. Doch was kam danach? Die Männer gingen heim. Die Lampen wurden ausgeschaltet. Die Region blieb zurück – nicht in Trauer, sondern in einer merkwürdigen Schwebe. Ein Teil wusste, dass etwas Großes zu Ende gegangen war. Ein anderer Teil ahnte, dass es niemand mehr interessieren würde.

Creutzwald ist ein Brennglas für das Schicksal der Arbeiterkultur in der französischen Provinz. Man hat das Gelände nicht völlig zerstört, aber auch nicht wirklich bewahrt. Es gibt einen Kreisverkehr, der nach der Grube benannt ist. Es gibt Schilder mit Pfeilen ins Leere. Es gibt Erinnerung ohne Adresse. Das Erbe liegt offen, aber niemand hebt es auf. Und genau das macht es so kostbar.

„La ruine glorieuse“ – die glorreiche Ruine – ist kein romantischer Begriff. Sie ist das, was bleibt, wenn man Würde nicht abreißen kann. Wenn Beton und Stahl sich weigern, ihre Geschichte aufzugeben. In Creutzwald erzählt jeder rostige Pfeiler mehr als ein Geschichtsbuch. Nicht, weil er viel weiß – sondern weil er geblieben ist. Unbeachtet, aber standhaft.

Was sagt das über Frankreich? Vielleicht dies: Dass die Republik große Worte hat für ihre Siege, aber keine Sprache für das, was sie verliert. Dass die Helden unter Tage nie wirklich zur Nation gehörten – sondern nur zu ihrer Versorgung. Und dass Erinnerung ohne Pflege nicht verschwindet, sondern verwildert.

Vielleicht ist genau das die Stärke dieses Ortes. Creutzwald schreit nicht. Es klagt nicht. Es wartet. Und manchmal, in der Abendluft, wenn das Licht schräg auf das alte Werktor fällt, scheint es fast so, als würde das Gelände atmen. Nicht nach Vergangenheit – sondern nach Gerechtigkeit.

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