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Louis de la SARRE Siegel

✍️ Louis de la SARRE

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Autor, Herausgeber und geistiger Architekt von La Dernière Cartouche. Ich schreibe an der Schnittstelle von Politik, Geschichte und Medienkritik – analytisch, meinungsstark, unabhängig. Mein Fokus liegt auf europäischen Fragen, vergessenen Perspektiven und der Rehabilitierung des gesunden Menschenverstands im Zeitalter der ideologischen Nebelwerfer. La Dernière Cartouche ist kein Nachrichtenportal, sondern ein Ort für Klartext, Tiefenschärfe und intellektuelle Gegenwehr.

📂 Rubrik: Kunst & Kultur
🗓️ Veröffentlichung: 27. März 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Als ich den Regen roch

Wie Gerüche Erinnerungen ausgraben, die wir längst vergessen glaubten

Marcel Proust

Ein Duft ist wie ein Schlüssel zu einem verschlossenen Zimmer in unserem Gedächtnis.

Ein Appell an die Sinne

Manchmal kommt sie wie aus dem Nichts – diese Welle, die kein Bild braucht, keinen Ton, kein Wort. Nur ein Duft, flüchtig, beinahe unscheinbar. Und plötzlich steht die Vergangenheit im Raum, greifbar wie der Dampf über einer heißen Tasse Tee. Der Geruch von nassem Asphalt nach einem Sommerregen, der Geruch von alter Schulkreide, der schwere Atem einer Kellerluft – sie alle öffnen Türen zu Vergangenem, das wir längst verloren glaubten.

Nicht durch Nachdenken oder Erzählen, sondern durch Riechen werden wir zurückgeworfen in eine andere Zeit, einen anderen Ort, eine andere Version unserer selbst. Der Geruchssinn ist der unmittelbarste unserer Sinne. Er umgeht die Logik, durchdringt den Filter der Sprache, trifft direkt das limbische System – jenen alten Teil unseres Gehirns, der für Emotionen und Gedächtnis zuständig ist.

Deshalb sind es oft Gerüche, die uns am heftigsten berühren. Sie wecken in Sekunden ein Gefühl von Geborgenheit oder Angst, lassen Tränen steigen, ohne dass wir sagen könnten, warum.

In der Literatur ist es Marcel Proust*, der diesem Phänomen ein Denkmal setzte. Als seine Romanfigur ein Stück Madeleine in Lindenblütentee tunkt, öffnet sich ein ganzer Kosmos der Kindheit. Nicht die Worte lösen diese Reise aus, sondern der Geschmack, das Aroma – ein olfaktorischer Zeitsprung.

Auch in der Kunstgeschichte, etwa bei der Beschäftigung mit Altären, Parfums, Kräuterwissen oder religiösen Räumen, spielt der Geruch eine unterschätzte Rolle. Unsere Kultur hat das Riechen lange an den Rand gedrängt. Der moderne Mensch, so scheint es, traut mehr dem Visuellen, dem Messbaren, dem Beweisbaren. Doch die Wahrheit ist: Wir sind auch Geruchswesen. Unser Körper erinnert sich – auf eine Weise, die der Verstand nicht immer versteht.

Ich selbst erinnere mich an einen Moment meiner Kindheit. Es war ein Regentag, nicht besonders stürmisch, eher melancholisch. Ich trat aus der Haustür und roch diesen ersten Tropfen, der auf heißen Stein trifft. Es war, als hätte jemand ein Fenster geöffnet. Ich wusste nicht, woran mich dieser Geruch erinnerte, aber ich wusste: Er gehört zu mir. Es war ein Gefühl von Zuhause, von Verlorenem, von etwas, das nie ganz verschwunden war. Vielleicht war es der Garten meiner Großmutter, vielleicht ein Sommernachmittag in der Nähe von Creutzwald. Vielleicht war es beides – oder nur eine Projektion. Doch der Punkt ist: Der Geruch war echt. Und mit ihm die Erinnerung.

Solche Erfahrungen zeigen, dass Identität nicht nur aus Gedanken und Überzeugungen besteht, sondern auch aus Sinneseindrücken. Dass unsere Geschichte nicht nur in Fotos und Geschichten liegt, sondern auch in Düften, Klängen, Texturen. Der Geruchssinn wird heute oft überdeckt – von Parfums, von Reinigungsmitteln, von sterilen Räumen. Doch wer sich wieder darauf einlässt, wer sich erlaubt, an einem Stück Moos, an einem alten Buch, an einem Wollmantel zu riechen, findet vielleicht etwas zurück, das er nicht gesucht hat: sich selbst.

„Als ich den Regen roch“ ist kein poetischer Zufall. Es ist eine Einladung, sich zu erinnern – jenseits der Worte. Es ist ein kleiner Appell an das Verborgene, an das, was bleibt, wenn der Kopf längst vergessen hat. Vielleicht ist es das, was uns am Menschsein hält: Dass wir nicht alles wissen müssen, um etwas zu fühlen. Und dass manchmal ein einziger Hauch genügt, um uns nach Hause zu führen.


*(Marcel Proust) Anmerkung

Obwohl es in Prousts berühmter Szene der Geschmack der Madeleine ist – nicht der reine Geruch –, ist der Mechanismus derselbe: Ein unbewusster Sinneseindruck durchdringt das Denken, durchquert die Zeit und ruft eine Erinnerung hervor, die längst verloren schien. Es war nicht allein der Duft, sondern der Geschmack – doch was ist Geschmack anderes als Geruch im Gewand des Körpers?

Marcel Proust, der große Chronist des inneren Lebens, setzte dem Phänomen der olfaktorischen Erinnerung ein literarisches Denkmal, das bis heute in der Weltliteratur seinesgleichen sucht. In seinem monumentalen Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschieht der vielleicht berühmteste Moment der Erinnerungsliteratur: Als seine Romanfigur ein Stück Madeleine in Lindenblütentee taucht, breitet sich mit einem Mal ein ganzer Kosmos an Erinnerungen aus.

Es ist nicht die bewusste Reflexion, die hier wirkt, sondern die Sinnlichkeit – der Geruch, der Geschmack, die Wärme des Tees. Wie aus dem Nichts taucht das verlorene Ich der Kindheit auf, lebendig, detailreich, unverstellt. Die Madeleine wird zum Schlüssel einer versunkenen Welt, der Tee zur Eintrittskarte in die Vergangenheit. Proust beschreibt diesen Moment nicht als rationalen Vorgang, sondern als fast mystischen Augenblick, in dem sich Zeit, Raum und Gefühl überlagern – eine Entgrenzung des Jetzt durch das Erinnerte.

„[…] Und sobald ich den mit dem Stück Madeleine vermischten Löffel Tee in meinen Mund gesteckt hatte und der Schluck mit dem Geschmack des Kuchens meinen Gaumen berührte, fuhr ich zusammen, aufmerksam auf das Außergewöhnliche, das in mir vorging. Ein köstliches Vergnügen hatte mich erfüllt, isoliert, ohne jeden Begriff von Ursache. Es hatte mich auf der Stelle mit der gleichen Köstlichkeit erfüllt wie die Liebe, ohne ihr jedoch eine Ursache zuzuschreiben. […]
Aber schon im nächsten Augenblick war mir die Ungewissheit bewusst, dass mein Gaumen sich bewegte, um herauszufinden, worin das Geheimnis lag, das so sehr in ihm gerührt hatte. […]
Und plötzlich war die Erinnerung da. Der Geschmack war der Geschmack des Stücks Madeleine, das mir meine Tante Léonie an den Sonntagmorgen in Combray – denn da lebten wir damals – gab, wenn ich sie in ihrem Zimmer begrüßte, nachdem ich es in ihren Lindenblütentee getaucht hatte. Der Anblick dieses alten Hauses hatte nichts ins Gedächtnis gerufen, was mich betraf, aber dieser Geschmack – das war er!“

Diese Szene wurde seither unzählige Male zitiert, analysiert, interpretiert – weil sie zeigt, dass unsere tiefsten Erinnerungen oft nicht in Worten, sondern in Düften, Geschmäckern, Klängen aufbewahrt sind. Und weil sie uns lehrt, dass das, was uns ausmacht, manchmal im Unsichtbaren liegt.

📎 Weitere Hintergründe zu Prousts Madeleine hier:
👉 Erinnerungen an Madeleine – Alimentarium Museum

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