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Zwischen Glanz und Guillotine

André Chénier und die letzte Elegie der alten Welt

Clemence Moreau Siegel

✍️ Clemence Moreau

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Clémence Moreau schreibt gegen das Vergessen des Feinen. Sie ist Literaturwissenschaftlerin, Feuilletonistin und Verteidigerin der Ambivalenz – dort, wo Sprache noch riskant, Denken noch mehrdeutig und Schreiben noch keine PR war. In La Dernière Cartouche seziert sie die Verflachung des Diskurses, das Verschwinden der Ironie und die therapeutische Selbstaufgabe der Kulturseiten. Ihre Texte sind stille Monokulare auf eine Welt, die einst Sprache liebte – und sie heute fürchtet.

📂 Rubrik: Kunst & Kultur
🗓️ Veröffentlichung: 23. Juni 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche
Es gibt Gedichte, die bleiben nicht in der Literatur. Sie werden zu Chiffren einer verlorenen Möglichkeit – einer anderen Geschichte, eines anderen Tons, vielleicht sogar einer anderen Menschlichkeit. André Chéniers Elegie an Fanny, geschrieben kurz vor seiner Hinrichtung im Sommer 1794, ist ein solcher Text.

Es gibt Gedichte, die bleiben nicht in der Literatur. Sie werden zu Chiffren einer verlorenen Möglichkeit – einer anderen Geschichte, eines anderen Tons, vielleicht sogar einer anderen Menschlichkeit. André Chéniers Elegie an Fanny, geschrieben kurz vor seiner Hinrichtung im Sommer 1794, ist ein solcher Text. Er stammt aus einer Zeit, in der das Reden selbst zum Risiko wurde, und ist doch von einer Zärtlichkeit, die sich nicht duckt. Was also geschieht, wenn ein Dichter auf dem Weg zur Guillotine noch einmal leise spricht?

Vielleicht beginnt genau hier ein Nachdenken über Intellektualität, das nicht mit Programmen, nicht mit Talkshow-Thesen oder klugen Selbstvermarktungen verwechselt werden sollte. Der Intellektuelle – im ursprünglichen Sinne – war immer ein Außenseiter der Gegenwart. Einer, der nicht repräsentiert, sondern unterbricht. Der kein Megafon braucht, sondern ein stilles Instrument, auf dem er die Dissonanzen der Zeit hörbar macht. Chénier war ein solcher Mensch. Kein Hofdichter, kein Jakobiner, kein Wortführer. Sondern ein Mann, der glaubte, dass Maß, Opferbereitschaft und Poesie keine Flucht sind – sondern eine Haltung.

Man muss sich seine Welt vergegenwärtigen: Die Monarchie war gestürzt, die Republik hatte begonnen, sich selbst zu fressen. Worte galten nichts mehr, es zählten Verdacht, Gesinnung, Zugehörigkeit. Inmitten dieser politischen Raserei schreibt Chénier eine Elegie, die von Früchten spricht, von der Sorge einer Mutter, von der Bereitschaft, für ein geliebtes Leben zu sterben. Nicht für ein System, nicht für eine Idee. Für ein Leben.

Hier geschieht etwas Seltenes: Die Poesie zieht sich nicht zurück in ihre Nische, sondern behauptet ihre Würde gegen die Gewalt der Geschichte. Der mythologische Gestus – Érigone, Pollux, Alceste – ist kein Ornament. Er ist Erinnerung daran, dass es eine Zeit gab, in der der Mensch nicht nur als Bürger, als Parteigänger, als Funktion existierte, sondern als ein Wesen der Liebe, der Anrufung, der Entscheidung.

Chéniers Gedicht ist kein historisches Dokument, es ist ein Gegenentwurf. In einer Welt der Vereinfachungen stellt es die Komplexität des Herzens aus. In einer Zeit, die auf Transparenz drängt, besteht es auf Geheimnis. Und während die Guillotine Schatten wirft, leuchtet darin noch einmal das Licht einer untergehenden Welt – nicht nostalgisch, sondern schmerzlich klar.

Heute, zweieinhalb Jahrhunderte später, ist die Guillotine verschwunden. Doch das Schweigen wächst. Die Intellektuellen, so heißt es, sind müde. Vielleicht stimmt das. Vielleicht aber haben sie einfach keine Sprache mehr, in der das Denken noch ein Risiko, eine Gabe, eine Liebesbewegung ist. Vielleicht müssen wir sie erst wiederfinden: nicht auf Podien, sondern in Gedichten. In solchen wie diesem.

Chénier stirbt, und mit ihm eine Idee von Welt, in der Schönheit und Ethos, Klarheit und Gefühl ein Ganzes bildeten. Aber wer sagt, dass sie nicht wiederkehren kann?

Vielleicht beginnt alles damit, dass wir wieder lesen. Nicht nur mit den Augen, sondern mit einer Sehnsucht nach Tiefe, die kein Algorithmus stillt. Dass wir Texte wie diesen nicht bloß als kulturhistorische Kuriosität behandeln, sondern als Einladung, uns zu erinnern: an das, was Denken einmal war – und vielleicht wieder sein kann.

La jeune captive

Poème d’André Chénier

Précurseurs de l’automne, Ô fruits nés d’une terre
Où l’art industrieux, sous ses maisons de verre,
Des soleils du midi sait feindre les chaleurs,
Allez trouver Fanny ; cette mère craintive.
À sa fille aux doux yeux, fleur débile et tardive,
Rendez la force et les couleurs.

Non qu’un péril funeste assiége son enfance ;
Mais du cœur maternel la tendre défiance
N’attend pas le danger qu’elle sait trop prévoir.
Et Fanny, qu’une fois les destins ont frappée,
Soupçonneuse et long-temps de sa perte occupée,
Redoute de loin leur pouvoir.

L’été va dissiper de si promptes alarmes.
Nous devons en naissant tous un tribut de larmes ;
Les siennes ont déjà trop satisfait aux dieux.
Sa beauté, ses vertus, ses grâces naturelles,
N’ont point des dieux sans doute, ainsi que des mortelles,
Armé le courroux envieux.

Belle bientôt comme elle, au retour d’Érigone,
L’enfant va ranimer, nourrisson de Pomone,
Ce front que de Borée un souffle avait terni.
Ô de la conserver, Cieux, faites votre étude ;
Que jamais la douleur, même l’inquiétude,
N’approchent du sein de Fanny.

Que n’est-ce encor ce temps let d’amour et de gloire,
Qui de Pollux, d’Alceste, a gardé la mémoire,
Quand un pieux échange apaisait les enfers !
Quand les trois Sœurs pouvaient n’être point inflexibles,
Et qu’au prix de ses jours, de leurs ciseaux terribles,
On rachetait des jours plus chers !

Oui, je voudrais alors qu’en effet toute prête,
La Parque, aimable enfant, vint menacer ta tête,
Pour me mettre en ta place et te sauver le jour ;
Voir ma trame rompue à la tienne enchaînée ;
Et Fanny s’avouer par moi seul fortuné
Et s’applaudir de mon amour.

Ma tombe quelque jour troublerait sa pensée.
Quelque jour, à sa fille entre ses bras pressée,
L’œil humide peut-être, en passant prés de moi :
« Celui-ci, dirait-elle, à qui je fus bien chère,
Fut content de mourir, en songeant que ta mère
N’aurait point à pleurer sur toi. »

Herbstboten, ihr Früchte, gewachsen auf Böden,
wo kunstvolle Hände in gläsernen Hallen
die Sonne des Südens mit Feuer nur täuschen –
Geht, bringt sie zu Fanny, der sorgenden Mutter!
Ihr Kind, spät erblüht, mit dem sanften Gesicht –
soll wieder Kraft haben und Farbe gewinnen.

Nicht weil Gefahr ihr zartes Leben bedrängt –
Doch ein Mutterherz ahnt das Unglück zu früh;
und Fanny, vom Schicksal einst hart getroffen,
denkt lang an den Verlust, misstraut dem Glück,
und fürchtet den Schlag, selbst aus weiter Ferne.

Der Sommer wird sicher die Angst noch vertreiben.
Wir alle sind schuldet der Welt uns’re Tränen;
doch Fanny, sie hat schon genug geopfert.
So schön sie auch ist, mit Tugend gesegnet –
was hätten die Götter wohl gegen ein Wesen
das sterblich und gütig wie sie?

Wie Érigone kehrt das Mädchen zurück –
von Pomona genährt, strahlt wieder ihr Antlitz,
das Borée zuvor mit seinem Hauch trübte.
O Götter, sorgt nun, dass ihr nichts mehr geschieht,
dass Schmerz oder Kummer nie wieder sich
der Brust von Fanny zu nähern vermögen.

Ach, wäre dies noch die Zeit der Legenden –
Pollux, Alceste, getauschte Leben –
als selbst die Parzen noch Milde kannten,
und für ein geliebtes, teures Geschöpf
ein Leben geopfert, ein Schicksalsfaden
verknüpft ward mit neuem Beginn.

Dann möcht ich, o Fanny, an deiner Statt
vor der Parze stehn und für dich vergehen.
Mein Faden gerissen, mit deinem verwebt –
und du lebtest, durch mich dir gerettet.
Und Fanny, du würdest dein Glück erkennen
in der Liebe, die dich bewahrt.

Vielleicht eines Tags, mit dem Kind im Arm,
säh sie mein Grab, die Augen feucht:
„Er“, würde sie sagen, „der mir einst so nah war,
er starb mit dem Gedanken, dass ich leben darf –
und dass mein Kind nie trauern musste um mich.“


Die vorliegende Übersetzung folgt nicht dem Anspruch einer metrisch exakten Nachbildung des französischen Originals, sondern sucht nach einer poetischen Äquivalenz, die Tonfall, semantische Schichtung und affektive Bewegung des Textes überträgt. Chéniers Sprache oszilliert zwischen klassischer Bildlichkeit und vorromantischer Zartheit; sie verlangt eine feine Balance aus historischer Nähe und heutiger Lesbarkeit.

Die Entscheidung, das Gedicht nicht gereimt, sondern in einem freien, leicht rhythmisierten Versmaß zu übertragen, beruht auf mehreren Überlegungen:

  1. Semantische Dichte statt metrischer Enge
    Viele Verse enthalten semantische Schichtungen, die in der deutschen Sprache durch Reimzwang unweigerlich verloren gingen (z. B. “Rendez la force et les couleurs” – hier bleibt die doppelte Konnotation von „Kraft“ und „Farbe“ nur durch Freivers erhalten).

  2. Registertreue
    Chénier verwendet ein erhöhtes, aber nicht prätentiöses Französisch, durchsetzt mit mythologischen Anspielungen und idiomatischen Wendungen. Die Übersetzung wählt daher ein gehobenes, aber nicht altertümelndes Deutsch – etwa: „vom Schicksal einst hart getroffen“ statt „geprüft“ oder „gebeugt“.

  3. Stilistische Nuancierungen
    Bestimmte Wörter – wie “pomone”, “borée”, “parque” – bleiben entweder als mythologische Bezüge erhalten oder werden behutsam umschrieben. So wird aus dem “souffle de Borée” der „Hauch des Borée“, um das Kältemotiv ebenso wie den mythologischen Resonanzraum zu wahren.

  4. Prosodische Struktur
    Die Gliederung in Sechszeiler und sinnbildliche Einheiten wurde bewusst nicht sklavisch übernommen. Stattdessen folgen die deutschen Abschnitte dem emotionalen Aufbau: von der Zuwendung zu Fanny über die mythologische Wunschrede bis zur stillen Vision eines erinnernden Nachruhms.

Diese Übersetzung ist also weniger eine Nachbildung als eine Antwort – sprachlich sensibel, kontextbewusst und der Tiefe von Chéniers Situation gerecht werdend.

Verfasser: André Chénier (1762–1794)
Entstehung: Frühjahr 1794, Gefängnis Saint-Lazare, Paris
Gattung: Élégie / Gefängnispoesie
Erstveröffentlichung: postum, 1819 in der Werkausgabe von Henri de Latouche
Bemerkung: Das Gedicht wurde der jungen Aimée de Coigny zugeschrieben, die zur selben Zeit in Saint-Lazare inhaftiert war. Ob sie tatsächlich das lyrische Ich ist, bleibt offen. Sicher ist: Der Text verbindet klassische Bilder mit einer modernen, fast romantischen Todesverweigerung – nicht aus Rebellion, sondern aus Lebensbejahung.

1. Französisch (Original)

Précurseurs de l’automne, Ô fruits nés d’une terre
Ou l’art industrieux, sous ses maisons de verre,
Des soleils du midi sait feindre les chaleurs,
Allez trouver Fanny ; cette mère craintive.
À sa fille aux doux yeux, fleur débile et tardive,
Rendez la force et les couleurs.


Literarische Übersetzung

Herbstboten, ihr Früchte, gewachsen auf Böden,
wo kunstvolle Hände in gläsernen Hallen
die Sonne des Südens mit Feuer nur täuschen –
Geht, bringt sie zu Fanny, der sorgenden Mutter!
Ihr Kind, spät erblüht, mit dem sanften Gesicht –
soll wieder Kraft haben und Farbe gewinnen.


Analyseblock – linguistische Anmerkungen

ASPEKT BESCHREIBUNG
Lexik „Précurseurs“ als poetisch-gehobenes Wort für „Herbstboten“ bewahrt die symbolische Vorahnung des Sterbens. „Fruits“ bleibt direkt übertragen, der „art industrieux“ wird kreativ übertragen zu „kunstvolle Hände“, um nicht in technische Metaphern abzugleiten.
Syntax Das Französische folgt einem kontinuierlich verschobenen Satzbau (Enjambements). Die deutsche Version versucht, gleiche syntaktische Beweglichkeit zu wahren, ohne ins Verschwurbelte zu kippen.
Bildlichkeit Das Bild „maisons de verre“ bleibt durch „gläserne Hallen“ erhalten. Die „Sonnenhitze“ wird metaphorisch interpretiert: „mit Feuer nur täuschen“ als bewusste Modulation.
Übersetzungsmethode Modulation + transposition poétique: Der Sinn wird bewahrt, aber Tonalität und Bildaura angepasst. Keine wörtliche Übersetzung, sondern funktionale Äquivalenz im poetischen Register.

2. Französisch (Original)

À sa fille aux doux yeux, fleur débile et tardive,
Rendez la force et les couleurs.
Non qu’un péril funeste assiége son enfance ;
Mais du cœur maternel la tendre défiance
N’attend pas le danger qu’elle sait trop prévoir.
Et Fanny, qu’une fois les destins ont frappée,
Soupçonneuse et long-temps de sa perte occupée,
Redoute de loin leur pouvoir.

2. Literarische Übersetzung

Ihr Kind, spät erblüht, mit dem sanften Gesicht –
soll wieder Kraft haben und Farbe gewinnen.
Nicht weil Gefahr ihr zartes Leben bedrängt –
Doch ein Mutterherz ahnt das Unglück zu früh;
und Fanny, vom Schicksal einst hart getroffen,
denkt lang an den Verlust, misstraut dem Glück,
und fürchtet den Schlag, selbst aus weiter Ferne.

3. Linguistische Analyse & Übersetzungstechnik

ASPEKT BESCHREIBUNG
Lexik „Fleur débile et tardive“ wird als „spät erblüht“ und „sanftes Gesicht“ übertragen, um das fragile Kind nicht zu pathologisieren, sondern zu poetisieren.
Syntax Die verschachtelte französische Struktur wird geglättet, bleibt aber rhythmisch: Wechsel zwischen direktem Ausdruck und unterbrochener Parenthese.
Bildlichkeit Die implizite Metaphorik (Kind als Blume) wird erhalten, aber nicht überinszeniert. „Leur pouvoir“ (Schicksal) als „der Schlag“ konkretisiert.
Übersetzungsmethode Kombination aus Äquivalenz und Verdichtung: Sinn und Tonlage bleiben, während die Struktur auf deutsche Lyriktradition abgestimmt wird.

3. Strophe (französisch)

Non qu’un péril funeste assiége son enfance ; Mais du cœur maternel la tendre défiance N’attend pas le danger qu’elle sait trop prévoir. Et Fanny, qu’une fois les destins ont frappée, Soupçonneuse et long-temps de sa perte occupée, Redoute de loin leur pouvoir.

Deutsche Übersetzung (literarisch)

Nicht weil Gefahr ihr zartes Leben bedrängt – Doch ein Mutterherz ahnt das Unglück zu früh; und Fanny, vom Schicksal einst hart getroffen, denkt lang an den Verlust, misstraut dem Glück, und fürchtet den Schlag, selbst aus weiter Ferne.

Linguistische Analyse & Übersetzungstechnik

ASPEKT BESCHREIBUNG
Lexik „péril funeste“ als „Gefahr“ mit dunklem Unterton, „tendre défiance“ zu „ahnt das Unglück“: Bedeutungsverschiebung zugunsten des poetischen Ausdrucks.
Syntax Die französische Satzstruktur mit ihren klammernden Einschüben wird geglättet, um die rhythmische Lesbarkeit zu wahren.
Bildlichkeit Die „Destins“ („Schicksale“) als handelnde Kraft werden zu einer latenten Bedrohung („der Schlag, selbst aus weiter Ferne“).
Übersetzungsmethode Modulation + Verdichtung: Die rationale Erklärung (ahnt zu früh) ersetzt die ausführliche Darstellung mütterlicher Intuition.

4. Französisch (Original)

L’été va dissiper de si promptes alarmes. Nous devons en naissant tous un tribut de larmes ; Les siennes ont déjà trop satisfait aux dieux. Sa beauté, ses vertus, ses grâces naturelles, N’ont point des dieux sans doute, ainsi que des mortelles, Armé le courroux envieux.

Literarische Übersetzung

Der Sommer wird sicher die Angst noch vertreiben. Wir alle sind schuldet der Welt uns’re Tränen; doch Fanny, sie hat schon genug geopfert. So schön sie auch ist, mit Tugend gesegnet – was hätten die Götter wohl gegen ein Wesen das sterblich und gütig wie sie?

Analyseblock – linguistische Anmerkungen

ASPEKT BESCHREIBUNG
Lexik „Tribut de larmes“ wird als poetische Pflichtschuld gegenüber dem Leben („der Welt“) übersetzt. „Les siennes“ bleibt als Bezug erhalten, „opfern“ statt „satisfait“ betont die religiös-emotionale Dimension.
Syntax Das Französische arbeitet mit einem Chiasmus zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre – im Deutschen aufgelöst in einer rhythmisch tragenden Hypotaxe.
Bildlichkeit Der Zorn der Götter („courroux envieux“) wird nicht personifiziert, sondern als rhetorische Frage zurückgenommen – typisch für die moderne lyrische Zurückhaltung.
Übersetzungsmethode Modulation und Reduktion: Bildintensität bleibt erhalten, aber komplexe Wendungen werden in deutschsprachigem Rhythmus geglättet.

5. Französisch (Original)

Belle bientôt comme elle, au retour d’Érigone, L’enfant va ranimer, nourrisson de Pomone, Ce front que de Borée un souffle avait terni. Ô de la conserver, Cieux, faites votre étude ; Que jamais la douleur, même l’inquiétude, N’approchent du sein de Fanny.

Literarische Übersetzung

Wie Érigone kehrt das Mädchen zurück – von Pomona genährt, strahlt wieder ihr Antlitz, das Borée zuvor mit seinem Hauch trübte. O Götter, sorgt nun, dass ihr nichts mehr geschieht, dass Schmerz oder Kummer nie wieder sich der Brust von Fanny zu nähern vermögen.

Analyseblock – linguistische Anmerkungen

ASPEKT BESCHREIBUNG
Lexik Eigennamen wie Érigone und Pomone bleiben im Original – als mythologische Referenzen zur Wiedergeburt (Érigone) und Fruchtbarkeit (Pomone). „Ranimer“ wird mit „strahlt wieder“ umdeutet, um Lebenskraft und Licht zurückzubringen.
Syntax Die klassische Apostrophe „Ô de la conserver“ wird ins flehentliche „O Götter, sorgt nun…“ übertragen. Der französische Infinitiv („faire votre étude“) wird durch eine deutschtypische Aufforderung ersetzt.
Bildlichkeit Der Hauch des Boreas bleibt als poetisches Naturmotiv erhalten – „trübte ihr Antlitz“ als milde Personifikation.
Übersetzungsmethode Transposition + Anrufungsstil: Die Übersetzung wahrt den lyrischen Appellcharakter und mythologische Kohärenz, vermeidet jedoch altertümelnde Konstruktionen.

1. Französisch (Original)

Sa beauté, ses vertus, ses grâces naturelles,X
N’ont point des dieux sans doute, ainsi que des mortelles,
Armé le courroux envieux.

2. Literarische Übersetzung

So schön sie auch ist, mit Tugend gesegnet –
was hätten die Götter wohl gegen ein Wesen,
das sterblich und gütig wie sie?


3. Linguistische Analyse & Begründung

Aspekt Beschreibung
Syntaxmodulation Die französische Konstruktion ist schwerfällig durch doppelte Verneinung und Inversion („n’ont point… ainsi que… armé…“) → im Deutschen aufgegliedert in zwei klar strukturierte Zeilen.
Transformation des Aussageprinzips Statt eines negativen Satzes („haben gewiss nicht den Zorn der Götter geweckt“) wird eine rhetorische Frage formuliert: „was hätten die Götter wohl…“ – entspricht dem elegischen Duktus besser und steigert die Wirkung.
Kulturelle Einbettung Das französische Original spielt mit einem antiken Theodizee-Motiv: Die envie des dieux als Mythos. Im Deutschen bewusst leicht zurückgenommen, da der Topos der eifersüchtigen Götter heute erklärungsbedürftiger wäre.
Stilistische Strategie Die deutschen Begriffe „Wesen“, „sterblich“, „gütig“ verstärken die zarte, fast sakrale Stimmung und führen das semantische Feld von Tugend, Verletzlichkeit und Milde weiter.
Übersetzungsmethode Einsatz von transposierender Rekonstruktion: Sinn und Stilton werden gewahrt, aber die syntaktische Form wird der deutschen Sprache angepasst – kein formaler Parallelismus.
Poetische Ökonomie Die leicht elliptische Formulierung „mit Tugend gesegnet“ ersetzt „sa beauté, ses vertus, ses grâces naturelles“ → Verdichtung, ohne Informationsverlust.

Ma tombe quelque jour troublerait sa pensée. Quelque jour, à sa fille entre ses bras pressée, L’œil humide peut-être, en passant prés de moi : « Celui-ci, dirait-elle, à qui je fus bien chère, Fut content de mourir, en songeant que ta mère N’aurait point à pleurer sur toi. »

Literarische Übersetzung

Vielleicht eines Tags, mit dem Kind im Arm, säh sie mein Grab, die Augen feucht: „Er“, würde sie sagen, „der mir einst so nah war, er starb mit dem Gedanken, dass ich leben darf – und dass mein Kind nie trauern musste um mich.“

Analyseblock – linguistische Anmerkungen

ASPEKT BESCHREIBUNG
Lexik „Ma tombe“ bleibt wörtlich als „mein Grab“, da es hier ein reales Bild evoziert. „Troublerait sa pensée“ wird in „säh sie mein Grab“ umgewandelt – der Gedanke wird zur Szene.
Syntax Der hypothetische Aufbau im Französischen („quelque jour… peut-être“) wird ins Deutsche als Konjunktiv-Kette übertragen, mit nachgestellter direkter Rede.
Bildlichkeit Die poetische Umkehrung: Der Sprecher stirbt mit der Hoffnung, dass Fanny nicht um ihr Kind weinen muss – ein zärtliches Paradoxon der Fürsorge.
Übersetzungsmethode Modulation und Perspektivverschiebung: Aus einer inneren Reflexion wird ein dialogischer Moment im Nachhall. Die Empathie bleibt tragend.

André Chénier (eigentlich André Marie Chénier, häufig André de Chénier, * 29. Oktober 1762

André Chénier (1762–1794)
Poet der Schwelle, Märtyrer der Maßhaltung. Geboren in Konstantinopel, gebildet in Paris, war Chénier ein Kind der Aufklärung – und doch bereits ihr elegischer Nachruf. Zwischen Antike und Revolution, Empfindsamkeit und Terror, schrieb er Verse von klassischer Zartheit in einer Welt, die in Schreien zerfiel. Seine Gedichte – oft fragmentarisch überliefert – zeugen von der Hoffnung, dass Schönheit und Freiheit sich nicht ausschließen. Als die Guillotine zum Taktgeber des Fortschritts wurde, schwieg seine Stimme. Sie hallt bis heute nach – leise, aber unüberhörbar.


Aimée de Coigny (1769–1820)
Tochter der Aufklärung, Gestalt der Schwelle. In den Salons des Ancien Régime geschult, fand sie sich in Saint-Lazare wieder – jung, schön, und vom Terror gezeichnet. Sie war keine Heldin, keine Märtyrerin – und wurde doch zur Muse eines Toten. In Chéniers „La Jeune Captive“ wurde sie zum Sinnbild des Lebens, das sich nicht ergeben will. Sie überlebte die Revolution, nicht unversehrt, aber mit jener leisen Würde, die dem Gedicht eingeschrieben blieb. Ein Gesicht, das Erinnerung trägt – und ein Vers, der atmet.

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