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Die Lichtung
Aus den Aufzeichnungen des Enkels eines schweigenden Kutschers
In den Tälern des Bliesgaus, jenen weich gerundeten, vorn und hinten vergessenen Falten des alten Lothringer Leintuchs, gibt es Orte, die in keiner Chronik stehen. Dort, wo Linden flüstern wie alte Frauen in schwarzen Tüchern, deren Gesichter von tausend Wintern gerötet sind; wo das Wasser der Blies mehr denkt als fließt, eine träge, olivgrüne Melancholie, die sich durch Wiesen windet, die einst zwischen deutsch und französisch, preußisch und lothringisch oszillierten wie ein flatterndes Band im Wind des Schicksals. Ja, dieses Land, von keinem festen Giebel bis zum anderen, ein Terrain der Zwielichtzonen und der unentschlossenen Horizonte – dort, in seiner unbestimmten Mitte, wurde sie gerettet, unsere Marianne. Eine von jenen Gestalten, die, wie Schmetterlinge, nur einmal ihre Farben zur Schau stellen, ehe sie in der vergilbten Luft der Geschichte verschwinden.
Verzeihung: nicht unsere. Ich bin keine Monarchistin, kein Mystikerin, keine Märchenerzählerin mit Tintenfingern und einem Hang zu derlei pittoreskem Kitsch. Und doch, ich höre noch meine Großmutter sagen – mehr mit dem Brodeln ihrer Suppe im Topf, als mit Worten, die ihren groben Lippen entfuhren – dass man in jener Nacht einen Schatten fuhr. Oder fuhr in ihm. Oder er fuhr alles. Ein Gefährt der Finsternis, das sich durch die Schleusen der Zeit zwängte.
Die Gräfin, ja, gewiss: Marianne von der Leyen, aus gutem Hause, schöner Handschrift, deren Unterschrift auf alten Dokumenten aussah wie ein kunstvoll geflochtener Schwan, mit einem Profil wie auf einer antiken Münze, aber aus Fleisch und Blut – und Furcht. Eine Furcht, die nicht schreiend oder zitternd war, sondern eine kalte, kristalline Angst, die sich in den Adern sammelte wie Quecksilber sich sammelt. Sie war es, die, so sagt man, in jener Nacht des Jahres 1793 nicht mehr durch Spiegel ging, die doch ihre einzige, treue Gesellschaft gewesen waren, sondern durch das kratzige, erdige Stroh eines Bauernwagens.
Sie soll sich nicht geweigert haben. Sie soll nicht gefleht haben. Das ist alles sehr enttäuschend für jemanden, der dramatische Szenen liebt, die sich in theatralischem Licht wiegen. Stattdessen stieg sie, schlicht gekleidet wie eine gestürzte Schäferin oder eine Bäuerin auf dem Weg zum Markt – eine Frau, die plötzlich das Gewicht ihrer Stellung abgeworfen hatte wie einen zu schweren Mantel –, auf einen Karren, der nach Rüben roch und Heu und einem Hauch Pomeranzenschale – was der Knecht Michel wohl vom Markt hatte mitgehen lassen, als kleinen Akt des zivilen Ungehorsams gegen die fade Realität.
Ich sehe sie. Ich sehe sie in jener Nacht, in jenem Wagen, das Gesicht halb im Schatten, halb im Hauch von Sternenlicht, das durch die Ritzen der Bretter fiel, tanzende Partikel im kaum merkbaren Dunst der Angst. Ihre Hände, in grobe Leinwand geschlagen, berührten das Heu, das Heu war warm von der Sonne des Vortags, noch, ein Rest von Tag in der umhüllenden Nacht. Sie sagte nichts. Einzig ein Zittern, das nicht vom Wagen kam, sondern ein feines, inneres Tremolo, lief durch den Stoff ihrer Ärmel, eine Botschaft ihrer Nerven an die Welt. Der Wagen, ein Holzschiff im Meer der Dunkelheit, fuhr nicht, er glitt, getragen von einer unsichtbaren Welle der Verschwiegenheit.
Und Hannes, der Alte, dieser schweigsame Golem aus Erde und Arbeit, dessen Augen die Felder kannten wie die Falten seiner eigenen Haut, sprach zu Michel in einer Sprache, die weder Hoch- noch Plattdeutsch war, sondern das Zwischen, der Dialekt der Grenze, der Ambivalenz, der Heimlichkeit. „Wenn du den Bach riechst, bist zu nah am Pfad“, sagte er, und seine Stimme war so tief wie das Wasser selbst. „Und wenn der Kauz ruft, nicht zurückschaun. Die Augen der Nacht sind überall, selbst in den Steinen.“ Einmal, als der Wagen über eine besonders tückische Wurzel rumpelte, hörte die Gräfin, wie ein Ast leise an die Holzseite scharrte, fast wie eine nagelnde Klaue. Sie zuckte zusammen, lauschte, spürte das schwere, gleichmäßige Atmen von Hannes und Michel. Doch niemand sprach, niemand rief. Das Schweigen war ihre stärkste Rüstung.
So ging es weiter, durch einen Wald, der sich zu verneigen schien, nicht aus Ehrfurcht, sondern aus Müdigkeit, ein Wald, der die Geheimnisse seiner Bäume besser bewahrte als die Menschen ihre eigenen. Und irgendwo – es muss zwischen zwei Atemzügen gewesen sein, in einem Intervall, das die Zeit selbst vergessen hatte – wechselte man den Wagen. Eine Lichtung. Ich stelle sie mir vor, eine kleine Insel des Frevels im Dunkel, von spärlichem Mondlicht gestreift. Ein kalter Luftzug strich über das Gras. Das Gefühl der Exposition, der plötzlichen Sichtbarkeit, musste schneidend gewesen sein. Paul wartete schon. Paul, der eigentlich Schneider war, mit Fingerkuppen, die noch immer die Texturen von feinem Tuch spürten, und der seine Nadeln gegen Nägel und Zügel getauscht hatte, ein Mann, dessen Blicke die Unsichtbarkeit beherrschten.
Sie stieg um, wie man aus einem Traum in einen anderen gleitet, ein nahtloser Übergang aus einem Albtraum der Bedrohung in die Fortsetzung desselben unter anderer Ägide. Kein Wort. Nur ein Nicken. Ein kaum merkliches, ein Zeichen des gegenseitigen Verstehens, das tiefer ging als alle Eide und Dekrete. Und weiter. Der zweite Wagen, nun federnder, schien die Angst der Gräfin leichter zu tragen, wie ein Boot auf stiller See.
Später, viele Jahre später, als man sich die Finger wieder an Messinggriffen verbrannte und die Revolution nur noch ein Wort war, das man auf dem Dachboden zwischen Mottenbällen fand, ein historisches Relikt ohne lebendige Flamme, da schrieb jemand: „Sie wurde von ihrem Volk gerettet.“ Aber wer war dieses Volk? Eine diffuse, namenlose Masse, in den Annalen kaum mehr als ein Raunen?
War es Else, die Magd mit den Schürzen, die nie richtig saßen und deren Augen die Gabe besaßen, gleichzeitig traurig und verschlagen zu blicken? Die, der man nachsagte, sie habe eine Narbe am Rücken wie eine zweite Wirbelsäule, eine Erinnerung an einen Unfall mit einem entlaufenen Pferd, oder war es doch ein Sturz aus Liebe? Ihre Treue war nicht blind, sondern gewachsen aus einem Geflecht von Gewohnheit, Abhängigkeit und einer stillen, unaufdringlichen Zuneigung, wie man sie einem alten Baum entgegenbringt.
Oder Jakob, der Schmied, dessen Hände so kräftig waren wie die Eichen im Wald, die aber auch die zartesten Hufeisen für die schönsten Rösser zu biegen wussten? Der in seinem Leben nur zwei Dinge fürchtete: dass das Eisen reißt – und dass ein anderer seine Tochter ausführt, die er liebte wie das Glühen in seiner Esse. Seine Hilfe war keine politisch motivierte Geste, sondern die rohe, instinktive Solidarität eines Mannes, der wusste, was es hieß, etwas Wertvolles zu schützen.
Oder war es einfach der Regen, der fiel, nicht in Strömen, sondern in einem stetigen, dämpfenden Nieseln, und die Geräusche verschluckte, als der Wagen durch die Engstelle an der verfallenen Ruine rumpelte, deren Schatten sich wie ein drohendes Gespenst über sie legte?
Ich glaube, es war das Schweigen. Das große kollektive Schweigen, das sich auf alles legte wie Reif auf eine Winterkachel, ein unsichtbarer Schleier, der sie vor den Blicken der Verfolger barg. Niemand sah etwas. Niemand fragte. Niemand erinnerte sich, bis die Zeit gekommen war. Und genau deshalb konnte sie entkommen, geschützt von der Leere der Nicht-Existenz in den Köpfen derer, die sie suchten.
Es gab, so erzählt man, eine Szene. Und natürlich gibt es keine Zeugen, nur das Echo einer Ahnung. Aber man sagt, die Gräfin habe für einen Augenblick den Schleier gelüftet – nicht den echten, der ihren Kopf barg, sondern jenen unsichtbaren, jenen hauchdünnen, doch unüberwindlichen, den man zwischen Stand und Menschsein spannt. Sie habe den alten Hannes angeschaut, als hätte sie ihn noch nie gesehen, als wäre er eine seltene Illustration in einem alten Band, dessen Seiten sich gerade erst öffneten. Und in diesem Blick – nicht mitleidig, nicht huldvoll, nicht einmal dankbar, sondern beinahe… neugierig, ja, eine intellektuelle Neugier auf ein unerforschtes Exemplar – lag das ganze Drama einer Ordnung, die im Fallen begriffen war, eines Jahrhunderts, das zu Ende ging.
Hannes, der nichts las außer dem Himmel und den Schultern seines Ochsen, die ihm die Sprache der Arbeit sprachen, habe leicht genickt. Nur das. Ein winziges Zucken des Kopfes, kaum ein Millimeter Bewegung. Und da, sagt meine Großmutter, hat es aufgehört, eine Rettung zu sein. Es war ein Tausch. Ein leiser, ungesühnter Tausch der Rollen, des Verständnisses, der Zukunft.
Denn sie trugen sie nicht nur durch den Wald. Sie trugen ihre Welt, ihr Bild, ihre Angst. Sie trugen eine Epoche auf ihren knorrigen Schultern, eine Epoche, die im Begriff war, ins Vergessen zu fallen. Und als der Morgen kam, nicht triumphal, sondern blass und schüchtern wie ein erster Satz, standen sie wieder dort, wo sie am Vorabend gewesen waren – aber ohne Schutz, ohne Herrin, ohne Illusionen, die sich wie Spinnweben an den alten Mauern hielten.
Man sagt, sie habe es geschafft. Dass der Morgen blassrosa über den Feldern aufging, wie ein schüchterner erster Satz eines noch ungeschriebenen Romans. Dass sie bei Trier die Grenze überschritt – oder war es doch bei Hornbach? Die Archive widersprechen sich mit der Unverfrorenheit toter Dokumente. Die Erinnerungen noch mehr, wuchern wie Unkraut im Garten der Wahrheit. Es gibt einen Brief, oder eine Abschrift eines Briefes, mit einem Wasserfleck wie ein Mond auf der Rückseite, in dem sie schrieb: „Ich habe meine Schuhe verloren, aber nicht den Weg.“ Ein winziges Detail, das mehr über die Realität ihrer Flucht erzählt als alle historischen Abhandlungen.
Sie lebte, sagen die einen, später in Koblenz, in einem Haus mit steinernen Schwänen am Torbogen, deren versteinerte Anmut die flüchtige Schönheit ihrer Bewohnerin spiegelte. Andere behaupten, sie sei nie zurückgekehrt, sondern in der Schweiz gestorben, als Witwe, als Legende, als Fußnote in einem unwichtigen Geschichtsbuch, deren Lesezeichen längst verrutscht ist.
Und doch – es gibt dieses Bild. Ich habe es selbst gesehen. In einem privaten Album, das nur mit weißen Handschuhen und unter Aufsicht durchgeblättert werden darf, dessen Seiten den Geruch alter Zeiten verströmen. Ein Portrait, unsigniert, unsicher datiert, zeigt eine Frau im Schatten eines Walnussbaums. Ihr Blick ist nicht nach vorn gerichtet, wo die Zukunft lockt, sondern leicht zur Seite, dorthin, wo ein Weg verschwindet, in einem Punkt, den keine Landkarte verzeichnet. Am Rand des Bildes: ein Wagen, halb im Gras versunken, vergessen, verrostet, ein Artefakt einer vergangenen Möglichkeit. Nur ein Rad ist zu sehen. Nur ein Rad – und doch scheint es sich zu drehen, langsam, unaufhörlich, wie eine Erinnerung, die niemand ganz besitzt, deren Bewegung sich unserem Zugriff entzieht.
Meine Großmutter, deren Hände nach Lavendel rochen und nach Stein, wenn sie die Kartoffeln aus dem dunklen Keller holte, sagte dann, wenn sie über das Bild beugte und ihre Augen durch die Jahrhunderte blickten: „Das ist sie. Und wenn du genau hinschaust, merkst du: Sie hört zu. Auch jetzt noch, dem Raunen des Windes in den Linden, dem Flüstern des Wassers, den Geschichten, die nicht in Büchern stehen.“
Vielleicht ist das die wahre Geschichte, die sich dem einfachen, direkten Zugriff entzieht. Oder nur eine jener Lichtungen, auf denen der Nebel stehen bleibt, weil sich niemand traut, ihn zu vertreiben, zu dicht sind die Schatten, zu vielschichtig die Bedeutung.
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