Von Musik kaum noch eine Spur: Der Eurovision Song Contest hat sich in ein identitätspolitisches Spektakel verwandelt. Was einst Europa verband, wird heute in Lichtzeichen zerlegt.
Ein Essay von Anna Becker
Es gab eine Zeit, da stand Europa einmal im Takt. Nicht einig vielleicht, aber hörbar. Griechenland hatte einen anderen Klang als Irland, Frankreich sang in einer anderen Farbe als Finnland – und wenn die Schweiz Punkte nach Luxemburg schob, war das wenigstens musikalisch motiviert.
Der Eurovision Song Contest, so hieß dieses Ritual, war kein Konzert der Weltpolitik, sondern ein Wettbewerb der Melodien. Ein Spiel mit Pathos, Kitsch und Stimme. Es war bunt – aber nicht belehrend. Emotional – aber nie ideologisch aufgeladen.
Heute ist von dieser Idee nicht viel geblieben. Der ESC hat sich verwandelt. Er ist keine musikalische Bühne mehr, sondern ein Ritual der Gesinnung. Was früher europäische Vielfalt feierte, wirkt heute wie ein Kurzgottesdienst der neuen Weltmoral – choreografiert in Licht und Symbolik, kodiert in Begriffen wie „Inklusion“, „Diversität“ oder „Empowerment“.
Die Musik ist noch da, formal betrachtet. Aber sie dient nur noch als Trägerwelle. Entscheidend ist, was sie darstellt. Nicht wie sie klingt.
Ästhetik der Haltung – Wenn Klang zur Nebensache wird
Was heute auf der ESC-Bühne stattfindet, ist kein Wettstreit musikalischer Ausdrucksformen mehr, sondern ein Wettbewerb der Zeichen. Die Performance ist nicht mehr Beiwerk, sondern Zentrum. Der Körper wird zur Botschaft, die Geste zum Argument.
Die Songs selbst sind austauschbar, oft generisch – das Entscheidende ist ihre Inszenierung. Androgyne Silhouetten, konfessionelle Lichtdramaturgie, das Zittern als Stilmittel. Tränen und Nebel, Masken und Botschaften. Je klarer das Statement, desto sicherer die Rezeption.
Musik ist nur noch die Kulisse für etwas anderes: einen affektgeladenen Ausdruck von Identität, Schmerz oder Erlösung. Die Ballade dient der Botschaft, der Beat dem Befreiungsnarrativ.
Und während das Publikum auf Social Media applaudiert, weil es die Chiffren erkennt, stellt sich leise die Frage: Wo ist Europa geblieben – als Klang, als Sprache, als musikalischer Charakter?
Die neue Orthodoxie – Wer dazugehört, wer nicht
Der ESC inszeniert sich als Ort der Offenheit, der Vielfalt, der Inklusion. Doch wie bei allen geschlossenen Systeme der moralischen Überlegenheit gilt auch hier: Offen ist nur, wer passt. Und Vielfalt meint oft nur die Varianten einer einzigen Weltsicht.
Wer sich außerhalb dieser Ästhetik bewegt – musikalisch, politisch oder kulturell –, hat es schwer. Beiträge, die nicht auf Selbstinszenierung, Identitätssignale oder emotionale Narrative setzen, wirken plötzlich „altmodisch“, „unambitioniert“ oder „problematisch“.
Nicht, weil sie schlechter wären – sondern weil sie keine Haltung mitliefern, die sich mit einem Hashtag teilen lässt.
So ist eine neue Orthodoxie entstanden: visuell kodiert, moralisch aufgeladen, international abgestimmt. Die Kriterien sind unausgesprochen, aber wirksam: Ambivalenz ist verdächtig, Ironie riskant, klassische Formensprache nahezu ausgeschlossen.
Wer sich in diese Logik nicht fügt, hat keine Chance – und oft keine Stimme.
Politik auf der Bühne – Der ESC als geopolitisches Schaufenster
Die Politisierung des ESC ist längst Realität. Der Wettbewerb, der einst als unpolitisches Musikereignis gedacht war, wird zunehmend zur Bühne geopolitischer Auseinandersetzungen. Besonders deutlich wurde dies in den letzten Jahren durch die Teilnahme von Ländern, die im Fokus internationaler Konflikte stehen.
Die Ukraine, seit dem russischen Angriff 2022, erhielt breite Solidarität und Unterstützung im Wettbewerb. Ihre Beiträge wurden nicht nur musikalisch, sondern auch politisch gewertet, was zu Diskussionen über die Objektivität des Wettbewerbs führte.
Im Jahr 2025 sorgte die Teilnahme Israels für erhebliche Kontroversen. Die Sängerin Yuval Raphael, Überlebende des Hamas-Angriffs von 2023, trat mit dem Lied New Day Will Rise an. Während sie im Publikumsvoting hohe Punktzahlen erreichte, erhielt sie von den Jurys deutlich weniger Unterstützung.
Die Veranstaltung wurde von Protesten begleitet. In Basel kam es zu Demonstrationen gegen Israels Teilnahme, und während der Proben versuchten Aktivisten, die Bühne zu stürmen. Die Organisatoren sahen sich gezwungen, Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen und künstlichen Applaus einzuspielen, um Buhrufe zu übertönen.
Diese Ereignisse werfen Fragen auf: Kann der ESC noch als unpolitisches Ereignis gelten? Oder ist er längst zu einem Spiegelbild internationaler Spannungen geworden, in dem Musik zur Nebensache wird?
Warum ich nicht mehr zuschaue – und was verloren ging
Ich schaue den ESC nicht mehr. Nicht aus Trotz, nicht aus Nostalgie, sondern aus einem Gefühl leiser Entfremdung. Das, was einst ein musikalisches Abbild Europas war – widersprüchlich, aber erkennbar –, ist zu einer rituellen Selbstbestätigung geworden, die keinen Widerspruch mehr kennt.
Die Melodien, an denen sich einst Länder versuchten, waren oft naiv, manchmal kitschig, aber sie waren Ausdruck. Heute sind sie Dekor. Der Fokus liegt auf der Botschaft, nicht auf der Musik. Der Klang zählt nur, wenn er codiert ist – als Haltung, als Bekenntnis.
Was verloren ging, ist nicht der Wettbewerb. Es ist die Offenheit des Formats. Die Möglichkeit, überrascht zu werden. Die Freiheit, einfach ein Lied zu hören – ohne Erziehungsauftrag, ohne Metaebene, ohne moralische Lesehilfe.
Vielleicht ist das der Lauf der Dinge. Vielleicht hat Europa sich einfach anders entschieden.
Aber ich bin dann raus.
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