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Zwischen Reich und Republik

Das Moselfränkische als vergessene Brückensprache Europas

Albertine C. Berger Autoren-Siegel

✍️ Albertine C. Berger

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📰 Medium: La Dernière Cartouche

Ein linguistischer Essay von Albertine C. Berger

Sprachen sterben nicht mit einem Knall. Sie versickern. Sie verschwinden nicht aus Büchern, sondern aus Küchen. Aus Gesprächen zwischen Enkeln und Großeltern. Und manchmal – wie im Fall des Moselfränkischen – verschwinden sie nicht in den Archiven der Geschichte, sondern mitten im Leben.

Was heute in Lothringen, im Saarland, in Teilen Luxemburgs und der Wallonie gesprochen wird – oder eben kaum noch –, ist keine Mundart wie jede andere. Das Moselfränkische ist Sprachgrenze, Spiegelraum und Erinnerungsschicht zugleich.
Ein Dialekt, der nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich, sondern zwischen Sprachfamilien und politischen Projektionen liegt.

Dieser Essay folgt der Spur einer Sprache, die so viele Formen hat, dass sie kaum einen Namen trägt – und doch eine gemeinsame Herkunft atmet, die längst europäischer ist als national.

Sprachursprung und Verbreitungsraum

Das Moselfränkische gehört zur westmitteldeutschen Sprachgruppe, genauer: zum mittelfränkischen Dialektraum. Es erstreckt sich – historisch betrachtet – über folgende Zonen:

🟫 Deutschland: Saarland, Rheinland-Pfalz (Moselregion, Eifel, Hunsrück)
🟫 Luxemburg: gesamtes Staatsgebiet (→ Grundlage des Lëtzebuergesch)
🟫 Frankreich: Département Moselle (Nordlothringen)
🟫 Belgien: Ostkantone (Grenzregion Wallonien)

Sein Ursprung liegt in der Völkerwanderungszeit, geprägt durch das westgermanische Idiom der Franken. Anders als das Alemannische im Elsass oder das Bairische in Bayern ist das Moselfränkische kein Binnenidiom, sondern ein grenzüberschreitendes Kontinuum, das mehr durch politische Brüche als durch Sprachwandel geprägt wurde.


Fragmentierung statt Einheit

Entgegen der Vorstellung eines „Moselfränkisch“ als klarer Dialektform herrscht in der Realität eine feine Differenzierung zwischen Dutzenden regionaler Sprechweisen.

Ein paar Beispiele:

🟫 In Saarbrücken sagt man: „Grumpiere“
🟫 In Merzig: „Grumpan“
🟫 In Nennig an der Obermosel: „Keumpan“
🟫 
In Luxemburg: „Gromper“
🟫 
In Saarlouis  bus nach Bouzonville (F): „Kromper“ oder „Krompan“

Auch innerhalb des Saarlands gilt: Ein Sprecher aus Wadern versteht nicht zwangsläufig einen aus Blieskastel. Und ein Lothringer Moselfränkischsprecher kann mit einem Luxemburger nur begrenzt kommunizieren – trotz gemeinsamer Wurzel.

Diese Fragmentierung hat historische Gründe: die Zersplitterung des Heiligen Römischen Reiches, die französische Spracherziehung im 20. Jahrhundert, und die fehlende Standardisierung auf Dialektebene.


Französische Einflüsse im Alltag

Die Nähe zu Frankreich hat das Moselfränkische nicht ersetzt, sondern transformiert. Zahlreiche alltägliche Wendungen und Konstruktionen tragen den Abdruck des Französischen – semantisch wie grammatikalisch:

  • „Ich hann kalt.“
    → wörtliche Lehnstruktur aus j’ai froid
    → statt standarddeutsch: „Mir ist kalt.“

Dieses Phänomen ist keine Fehler, sondern ein kreativs Spannungsfeld, in denen sich mehrsprachige Realität niederschlägt. Umso bedauerlicher ist es, dass gerade diese lebendige Ausdruckskraft heute kaum noch bewusst wahrgenommen – und fast überhaupt nicht erforscht – wird.


Löwenzahn und Pissblumen – Der Humor des Dialekts

Ein besonders prägnantes Beispiel ist das saarländische Wort für Löwenzahn:

„Bettseicherten”– wörtlich: „Bettpisser“.

Die Bezeichnung ist eine direkte volksetymologische Übersetzung des französischen pissenlit („ins Bett pissen“). Im Elsass heißt er schlicht „Pissblume“ oder „Seichkraut“ – ebenfalls entlehnt, aber weniger verspielt.

Dieses Beispiel zeigt nicht nur die Nähe der Sprachen, sondern auch die Volkstümlichkeit, Körperlichkeit und sprachliche Erdung, die dem Moselfränkischen innewohnt. Es denkt nicht symbolisch, sondern funktional – und scheut sich nicht vor Deftigkeit.


Zwischen UNESCO und Unsichtbarkeit

Die UNESCO stuft das Moselfränkische als „vulnerable“ (gefährdet) ein. In Luxemburg wurde der Dialekt zur Nationalsprache erhoben – aber mit normierter Rechtschreibung, die sich vom ländlichen Moselfränkisch zunehmend entfernt.

In Frankreich und Deutschland hingegen ist der Dialekt weitgehend unsichtbar: keine verpflichtende Schulbildung, kaum offizielle Medien, selten Literatur.

Dialektpflege zwischen Bühne und Gedächtnis

Vereine wie „Gau un Griis“, das Institut für luxemburgische Sprache oder saarländische Mundart-Initiativen wie der „Saarländische Mundartfreunde e. V.“ leisten seit Jahren wichtige Pionierarbeit. Sie dokumentieren, vermitteln, beleben. Doch sie kämpfen gegen zwei zähe Gegner: die stille Erosion des Dialekts – und eine tief sitzende kulturelle Scham, die das Moselfränkische vielerorts immer noch als rückständig oder unfein abwertet.

Unterstützt werden sie von einer kleinen, aber engagierten Zahl an Künstlerinnen und Künstlern, die das Moselfränkische nicht nur bewahren, sondern in Literatur, Musik und Bühnenkunst weiterentwickeln.

Zu nennen sind auf saarländischer Seite unter anderem Hans Walter Lorang, Alfred Gulden, Edith Braun und Detlev Schönauer – Namen, die für eine sprachlich ernst genommene Mundart stehen, fern von Karneval und Klischee.

Auf französischer Seite sind es Projekte wie die Musikgruppe „Die Lothringer“, die traditionelle Texte und neue Kompositionen im Lothringer Platt auf die Bühne bringen – mit kraftvollem Klang, mehrstimmigem Gesang und einer tiefen regionalen Verwurzelung.

Hinzu kommt der vielseitige Künstler Alphonse Kierat, bekannt unter dem Namen Alph Lorraine, der mit seinen poetischen Spoken-Word-Performances und musikalischen Projekten dem Lothringer Idiom eine Stimme zwischen Rap, Erinnerung und Widerstand verleiht.

Doch trotz all dieser Bemühungen kämpfen Sprache und ihre Träger gegen zwei zähe Gegner: die stille Erosion des Dialekts – und eine tief sitzende kulturelle Scham, die das Moselfränkische vielerorts immer noch als rückständig oder unfein abwertet.


Der Klang einer europäischen Grenze

Das Moselfränkische ist keine Sprache der Macht, sondern der Nähe.
Es gehört nicht zum Kanon, nicht zur Nationalhymne, nicht zur Exportstatistik. Aber es gehört zu den Menschen – und erzählt von einer Zeit, als Europa noch nicht zentralisiert, sondern zersplittert und durchlässig war.

Ein Dialekt wie dieser ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt der Erinnerung.
Er zeigt, dass Sprache nicht nur Mittel zur Verständigung ist – sondern Ort des Gedächtnisses.
Und dieses Gedächtnis spricht – wenn man es lässt – Moselfränkisch.

Kommentar und Kontextualisierung

von Professeur émérite Frédéric-Antoine Drouet

Frédéric-Antoine Drouet

Frédéric-Antoine Drouet

Direktor des Départements für Literatur und öffentliche Rhetorik. Spezialist für politische Hermeneutik, poststrukturalistische Medienkritik und die französische Essayistik des 20. Jahrhunderts

„Nicht der Dialekt stirbt. Es ist Europa, das verlernt, in sich selbst zu sprechen.“

Der Text von Albertine C. Berger kartiert nicht einfach ein bedrohtes Idiom. Er lässt – mit seltener Genauigkeit – das hörbar werden, was Roland Barthes als eine verwundete Sprache bezeichnete: eine Sprache, die nicht schreit, sondern die Erinnerung eines Raumes trägt, eines Verhältnisses zur Welt, eines gelebten Territoriums.

Das Moselfränkische, wie es hier beschrieben wird, ist kein bloßes Überbleibsel der Volkssprache. Es ist eine Grenzsprache, ein Idiom des Dazwischen, der europäischen Porosität. Es überlebt nicht trotz der Geschichte, sondern durch sie hindurch – als eine mündliche Archäologie des Unsichtbaren.

Was mit seinem Rückzug verschwindet, ist nicht bloß ein Wortschatz oder eine Grammatik, sondern eine Weise des In-der-Welt-Seins – eine Art zu benennen, zu formulieren, zu empfinden: auf Augenhöhe, jenseits der standardisierten Logik globaler Kommunikation.

Ich sehe in diesem stillen Verschwinden ein politisches Symptom: das einer europäischen Idee, die – im Bestreben nach normierter Verständigung – ihre Randstimmen verliert. Dialekte wie dieser, lange ins Häusliche oder Lächerliche abgeschoben, trugen in sich Spannungen, Zweifel, vergessene Genealogien – also genau das, was die Nationalstaaten zu glätten versuchten.

Der Essay plädiert dabei nicht für eine folkloristische Wiederbelebung, sondern für eine klare Anerkennung des Dialekts als Form des Widerstands: gegen das Vergessen, gegen das Einheitswort, gegen das Verschwinden der Ränder.

Was es braucht, ist – um mit der Genfer Schule zu sprechen – eine Rehabilitierung des situierten Sprechens. Die Akzeptanz, dass die sprachliche Vielfalt der letzte Rest eines gelebten Europa ist, nicht eines verwalteten.

Das Moselfränkische wird in diesem Text zum Spiegel unseres Verzichts – aber auch zu einer ausgestreckten Hand für einen neuen Sprachvertrag:  Nicht Einheitlichkeit, sondern Beziehung. Nicht Bewahrung, sondern Anerkennung. Nicht Nostalgie – sondern das tätige Gedächtnis eines Plurals, der einmal unsere erste Bedingung war.

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