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Wenn man schweigt, um dazuzugehören.

Anna Becker Siegel

✍️ Anna Becker

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Anna Becker schreibt für La Dernière Cartouche über Gesellschaft, Diskursverfall und den täglichen Irrsinn der sogenannten Aufklärung. Ihre Texte sind kein Florett – sie sind ein literarischer Kuhfuß gegen Selbstgerechtigkeit, Doppelmoral und moralische Erpressung im Namen der Vernunft. Mit scharfem Humor und glasklarem Stil zerpflückt sie Narrative, an denen andere aus Angst oder Karrieregründen vorbeischreiben. Becker hat Soziologie und Sprachwissenschaften studiert, arbeitet anonymisiert, lebt zurückgezogen, aber denkt öffentlich. Ihre größte Waffe: die Ironie – präzise dosiert, selten versöhnlich.

📂 Rubrik: Wort-Guerilla
🗓️ Veröffentlichung: 29. April 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Anna Becker über das Unausgesprochene in uns – über die Angst vor dem falschen Wort, den sozialen Blick und das Verstummen inmitten der Rede.

Ich wollte nichts Falsches sagen
Die stille Gewalt der Sprachregelung

“Sag nichts, was man gegen dich verwenden könnte.”

Der Satz fiel nicht laut, sondern innen. Wie ein kleiner Schritt zurück, bevor man den Mund öffnet.
Ich hatte nur eine Kleinigkeit sagen wollen. Etwas, das mir durch den Kopf ging, als wir über ein Buch sprachen – ein Satz, der mir vorkam wie ein Lichtschimmer in der Diskussion. Und doch hielt ich ihn zurück.

Nicht, weil ich dachte, er sei falsch. Sondern weil ich nicht wusste, wie er ankommen würde.
Weil ich ihn sofort durch die Augen der anderen hörte.
Weil er nicht glatt genug war. Nicht eindeutig. Nicht sicher.

Ich schwieg. Und niemand merkte es.

Später, als ich allein war, dachte ich an all die nicht ausgesprochenen Sätze, die in mir lagern wie abgebrochene Briefe.
Manche beginnen mit „Ich glaube…“, andere mit „Ich bin mir nicht sicher, aber…“
Sie alle enden nicht. Sie sind Fragmente.
Unveröffentlicht.

Es beginnt harmlos.
Ein Wort, das man vermeidet.
Eine Meinung, die man nicht teilt – aber auch nicht widerspricht.
Ein Lächeln, das länger dauert, als es müsste.
Und dann merkt man: Sprache ist nicht mehr frei. Sie ist sozial gefiltert.

Nicht durch Zensurbehörden oder rote Stempel, sondern durch das Netz aus Blicken, Reaktionen, Kommentaren, Likes, Tonfällen.
Durch den Satz „Das kannst du doch so nicht sagen“, der sich längst ins eigene Denken eingebrannt hat.

Wir sagen nicht mehr, was wir fühlen.
Wir sagen, was wir glauben, dass man fühlen sollte.
Und irgendwann wissen wir selbst nicht mehr, was der Unterschied war.

Ich denke an ein Gespräch über Kunst.
Eine Freundin sagte: „Man muss heute so vorsichtig sein.“
Ich fragte: „Warum?“
Sie antwortete nicht direkt. Sie sah mich nur lange an.
Dann sagte sie: „Weil man sonst schnell auf der falschen Seite steht.“
Ich weiß bis heute nicht, welche Seite sie meinte.

Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist keine Angst vor Fehlern.
Es ist die Angst, aus dem Kreis zu fallen.
Nicht mehr dazu zu gehören.
Verstanden zu werden – auf die falsche Weise.

Und so entstehen Texte, die nichts sagen.
Sätze, die wie Wattebäusche durch den Diskurs treiben.
Unantastbar.
Aber auch: unbedeutend.

Ich wünsche mir das Gegenteil.
Ich wünsche mir Worte mit Ecken.
Gedanken mit Grautönen.
Sätze, die riskieren.
Und ich weiß: Das ist ein hoher Preis.

Denn wer sagt, was er wirklich denkt, muss bereit sein, missverstanden zu werden.
Oder verlassen. Oder entfolgt.

Aber vielleicht – vielleicht – hört irgendwo jemand zu,
der dasselbe nicht zu sagen wagte.
Und erkennt sich.

Dann lohnt sich jedes Wagnis.

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