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Sieben Reiter verließen die Stadt

Sie verließen keine Stadt – sie verließen eine Epoche.

Jack OReilly Siegel

✍️ Jack OReilly

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Jack O’Reilly schreibt für La Dernière Cartouche über das, worüber andere nicht schreiben dürfen – oder nicht schreiben wollen. Seine Texte sind kalt, klar und kompromisslos. Kein moralischer Überbau, keine ideologischen Floskeln – nur Fakten, Ketten, Netzwerke. Er verfolgt Geldflüsse, Eigentümerstrukturen und Propagandastrategien quer durch Konzerne, Redaktionen und politische Apparate. O’Reilly war lange Investigativreporter in London und Dublin, später in Brüssel. Seit 2023 arbeitet er unter wechselnden Pseudonymen in Berlin und schreibt dort an einem Buch mit dem Arbeitstitel „Die Fabrik der Wirklichkeit“.

📂 Rubrik: Verlorene Patronen
🗓️ Veröffentlichung: 28. März 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche
„Sept cavaliers quittèrent la ville.“

Sie ritten hinaus – Raspail und die Stille danach

[Sept cavaliers quittèrent la ville au crépuscule par la porte de l’Ouest qui n’était plus gardée.]
So beginnt nicht nur ein Roman, sondern ein Abgesang.

Jean Raspail schrieb dieses Buch 1993 – als wäre es für uns heute gedacht. Sieben Reiter verlassen eine namenlose Stadt, in der die Ordnung zerfallen ist, der König verschwunden, die Bevölkerung abgetaucht. Kein Angriff. Kein Umsturz. Kein Krieg. Nur ein Rückzug ins Nichts. Keine Katastrophe – sondern das lautlose Verschwinden einer Welt.

Keine Dystopie. Eine Diagnose.

Wer dieses Buch als Dystopie liest, verfehlt es. Sept cavaliers ist keine Warnung, keine Vision, sondern ein Spiegel. Raspail zeigt den Augenblick, in dem die Institutionen noch existieren – aber nicht mehr wirken.
Die Uniformen werden noch getragen, die Ränge genannt. Aber keiner folgt mehr. Was bleibt, ist das Ritual der Bedeutungslosigkeit.

Die sieben Reiter, Adelige, Offiziere, Bischöfe, stellen keine neue Ordnung her. Sie dokumentieren den Zerfall, reiten durch verlassene Straßen, durch schweigende Felder, durch einen Kontinent, der ausgehaucht, aber noch warm ist. Es ist ein Europa, das sich nicht gegen den Untergang wehrt, weil es nicht mehr weiß, was es verteidigen soll.

Der letzte Glanz des Unzeitgemäßen

Die Männer, die hier reiten, sind keine Helden. Sie sind Träger einer Form, einer Haltung, einer alten Welt. Sie kämpfen nicht. Sie suchen nicht. Sie reiten, weil alles andere unwürdig wäre. Raspail gelingt das Unglaubliche: Er schreibt über das Ende, ohne Untergangspathos. Er ist kein Apokalyptiker – sondern ein Chronist der Leere. Ein Schriftsteller, der weiß, dass das Verstummen politischer Begriffe lauter ist als jede Revolution.

Und wenn sie heute losritten?

Der Roman ist nicht „aktuell“. Er ist zeitenthoben – und genau deshalb so treffend. Er stellt keine Prognose, sondern eine Frage:

Was bleibt, wenn alles noch da ist – aber nichts mehr gilt?

Man kann die sieben Reiter als Archetypen lesen. Oder als Europäer. Oder als eine Idee, die nicht untergeht, sondern weiterreitet.
Stolz. Leer. Und nicht rückblickend.

Eine Sprache wie ein Feldzug – langsam, entschlossen, unaufhaltsam

Raspails Stil ist kein Strom – er ist ein Marsch. Die Sätze tragen Uniform. Die Dialoge sind knapp, die Landschaften weit. Hier wird nicht erklärt – sondern gezeigt. Und was gezeigt wird, ist keine Welt im Chaos, sondern eine Ordnung ohne Inhalt. Ein Rathaus ohne Rat.
Ein General ohne Bataillon. Ein Bischof ohne Gemeinde. Die Sprache verzichtet auf große Gesten – gerade das macht sie so eindringlich. Sie ist nicht literarisch verspielt, sondern liturgisch, beinahe zeremoniell. Raspail inszeniert den Untergang nicht als Drama, sondern als Gottesdienst ohne Gott.

Ein politisches Buch ohne Parolen

Sept cavaliers ist kein rechter Roman, kein konservativer Roman, kein ideologisches Pamphlet – aber es ist auch kein unschuldiges Buch.

Es ist ein Text, der Haltung verlangt – und Haltung beschreibt. Nicht im Sinne von Programmen oder Positionen, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes: Wie man steht, wie man geht, wie man bleibt, wenn nichts mehr trägt. Der Zerfall in diesem Buch ist nicht revolutionär, nicht anarchisch, nicht postmodern. Er ist still, geordnet, würdevoll – und endgültig.

Wer in Raspails Reitern den Westen erkennt, erkennt nicht falsch. Aber Raspail zeigt keinen Gegner. Kein „die da“. Nur ein „es ist vorbei“.
Und die Frage: Wer reitet trotzdem weiter – und warum?

Nachklang

Sept cavaliers quittèrent la ville ist kein Roman, den man „liest“. Es ist ein Buch, das einem bleibt.

Wie ein Echo aus einer Zeit, die nie war – aber die wir alle zu kennen scheinen. Ein Requiem für Europa, das nicht stirbt, sondern sich auflöst. Nicht in Gewalt, sondern in Bedeutungslosigkeit. Nicht in Feuer, sondern in Schweigen. Und vielleicht ist genau das die wahre Apokalypse: Wenn keiner mehr kommt, um uns zu zerstören – weil wir uns lange vorher selbst entleert haben.

Porträt: Jean Raspail (2010)
© Gilles Rammant, via Wikimedia Commons
Lizenz: CC BY-SA 3.0 Unported
Bearbeitung: Schwarzweiß & Freistellung durch La Dernière Cartouche

Anmerkung zur Einordnung Jean Raspails

Jean Raspail (1925–2020) war ein französischer Schriftsteller, Reiseschriftsteller und überzeugter Monarchist. Sein Werk bewegt sich zwischen nostalgischer Elegie und provokativer Weltkritik – getragen von einer tiefen Melancholie über den kulturellen Zerfall des Abendlandes.

Neben dem poetisch-rückhaltenden Sept cavaliers quittèrent la ville veröffentlichte er 1973 den Roman Le Camp des Saints, der bis heute scharf umstritten ist: teils als düstere Allegorie auf Massenzuwanderung gelesen, teils als rassistische Polemik verurteilt.

La Dernière Cartouche interessiert sich nicht für Raspail als Provokateur, sondern für den Autor, der den Moment der Auflösung – jene stille, geordnete Leere vor dem endgültigen Verstummen – literarisch greifbar gemacht hat. Seine Sprache kennt keine Parolen. Aber sie erinnert daran, was es heißt, wenn nichts mehr gesagt werden kann.

Weiterführende Lektüre:

Ein eigenständiger Beitrag zur Einordnung Jean Raspails – mit Fokus auf seine radikaleren, politischen Texte, insbesondere Le Camp des Saints – findet sich in:

„Jean Raspail – Prophet in der literarischen Wüste“
in: Sezession, Heft 57 (März 2014), Seite 6

Der Artikel betrachtet Raspail nicht als klassischen Romancier, sondern als metapolitischen Chronisten des französischen Bedeutungsverlusts – und beleuchtet die Rezeption seiner Werke im Spannungsfeld von Literatur, Migration und Souveränität.

📄 PDF-Quelle: sezession.de/hefte/sez057.pdf
(Hinweis: Externe Datei, Verfügbarkeit nicht garantiert. Quelle dient der ergänzenden Einordnung des Gesamtwerks.)


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