Wahrheit nach Aktenlage
Wenn der Staat die Lüge definiert
In Deutschland wird bald nicht mehr nur gelöscht, sondern vielleicht auch gewertet. Und zwar von oben. Ein Arbeitspapier von Union und SPD, das dieser Tage durch die Medien geistert, deutet auf eine künftige Strategie hin, die mehr sein will als bloße Plattformregulierung: Sie will die „gezielte Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ strafrechtlich neu gewichten – und damit Meinungsäußerungen neu sortieren. Gut gemeint. Aber brandgefährlich.
Justitia mit verbundenen Augen vor Fernsehmonitoren – Symbolbild zur staatlichen Wahrheitsdefinition
Wahrheit nach Aktenlage – Wenn der Staat die Lüge definiert
Von Jack O’Reilly – La Dernière Cartouche
Sie machen ernst. Die neue GroKo, die noch gar keine ist, will die Meinungsfreiheit neu verhandeln – mit dem Vorschlaghammer. Was früher als Grundrecht galt, als Bollwerk gegen Macht und Verblendung, soll nun durch ein unsichtbares Netz aus „gesetzlichen Vorgaben“ und „klaren Regelungen“ ersetzt werden. Klingt technisch, klingt vernünftig – ist aber nichts anderes als der Einstieg in einen autorisierten Diskursraum, der auf den ersten Blick frei wirkt, aber nur solange, bis jemand etwas sagt, das nicht eingeplant war. Der Staat als Wahrheitsinstanz, flankiert von Ministerien, Ausschüssen und Medienräten, will künftig festlegen, was eine „bewusste Falschbehauptung“ ist. Und wenn man genau hinhört, nicht mehr Google oder Facebook, sondern die Bundesrepublik Deutschland, die entscheidet, ob ein Gedanke noch legitim ist – oder ein Fall für die Medienaufsicht. Man beruft sich auf den Digital Services Act der EU, als sei der plötzlich ein moralischer Kompass. Dabei wurde der DSA ursprünglich nicht geschaffen, um Wahrheit zu definieren, sondern um Plattformen in ihre Verantwortung zu nehmen – für Transparenz, für Schutz vor Gewalt, für faire Werbung. Doch nun wird dieser EU-Rahmen zur Grundlage eines neuen Tugendstaates, der nicht zensiert, nein, er „beurteilt“, „beobachtet“, „einordnet“. Ein Faktencheck ist keine Meinungsäußerung, sondern ein Totschlagargument mit Prüfsiegel. Und die Wahrheit wird nicht mehr in Auseinandersetzung, Widerspruch und Analyse verhandelt, sondern in Formaten, in denen man besser die Klappe hält, bevor man aus dem Raster fällt.
Die Frage ist nicht mehr, ob etwas gesagt werden darf, sondern ob es gesagt werden sollte – und wer das entscheidet. Der Satz „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ ist längst ironisch kontaminiert, und das mit voller Absicht. Er soll lächerlich klingen, obwohl er das Grundprinzip jeder Demokratie benennt: das Recht, auch Unsinn zu sagen. Denn wer das Recht auf Unsinn abschafft, verliert auch das Recht auf Irrtum, auf Neudenken, auf das Revidieren. Der Staat plant jetzt, Lügen zu verbieten. Nicht Beleidigungen, nicht Aufrufe zur Gewalt – sondern Lügen. Also Unwahrheiten. Also Aussagen, die nicht nachweislich korrekt sind. Wie bitte? Wer hat in den letzten zehn Jahren zuverlässig zwischen Wahrheit und Irrtum unterschieden? Die Talkshows? Die Leitartikel? Das BMI mit seinen Pandemiepapieren? Die WHO, die Twitter-Accounts löschen ließ, bis sie ihre Positionen selbst änderte? Die Lüge ist kein juristisch eindeutiger Begriff. Sie ist eine Absicht, ein Motiv, ein innerer Zustand. Wer will das beweisen? Die Bild schreibt vom „bewussten Verbreiten falscher Tatsachenbehauptungen“. Das ist Orwell mit Referenzkette. Und das Ganze, man höre und staune, soll „nicht mehr durch die Meinungsfreiheit gedeckt“ sein. Wer das mitträgt, hat den Unterschied zwischen Republik und Redaktion nicht verstanden.
Natürlich gibt es Desinformation. Natürlich gibt es Propaganda. Natürlich gibt es schädliche Narrative. Aber was die neue Regierung plant, ist kein Schutzwall gegen den Strom der Dummheit – es ist ein Damm gegen das freie Schwimmen. Eine Demokratie, die ihre Bürger für zu schwach hält, mit widersprüchlichen Informationen umzugehen, ist keine Demokratie, sondern ein Erziehungsstaat mit Internetzugang. Und es sind nicht nur Juristen wie Volker Boehme-Neßler oder Josef Franz Lindner von der Uni Augsburg, die davor warnen. Es ist jeder, der noch weiß, wie eine offene Gesellschaft funktioniert. Wenn es erst gesetzlich festgelegt ist, dass Wahrheit eine Frage der Redaktion ist, nicht des Diskurses, dann sind wir durch die kalte Tür in die heiße Lüge gegangen. Dann ist das, was nicht stimmt, nicht nur falsch – sondern verboten. Und das, was stimmt, ist nur noch das, was genehmigt wurde.
Quellen:
– Deutschlandfunk Kultur: Kommentar zur staatlichen Rolle bei Fake News
– Die Welt: Kritik von Prof. Lindner zum Bürgerrat gegen Fake News
– Bild: Bericht über GroKo-Pläne zur Strafbarkeit von Falschaussagen
– SWP Berlin: Analyse zur strategischen Bekämpfung von Desinformtion
– EU-Kommission: Digital Services Act – Pressemitteilung
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