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Kapitel 6
WAS ICH EUCH NIE GESAGT HABE
Ich habe euch inzwischen vieles gesagt. Gedanken. Werte. Aufklärung, Freiheit, Recht. Ich habe mich gern gefeiert – als Wiege der Vernunft und Hüterin der Kultur. Aber was ich euch nie gesagt habe, ist, wie oft ich gezittert habe. Wie oft ich nicht wusste, ob ich überleben würde – nicht wegen des Krieges, sondern wegen des Vergessens. des Verdrängens. des Lächerlichseins. Oft habe ich mich selbst nicht wiedererkannt. In den Spiegeln der Geschichte, in den Ruinen, die ich anderen zugemutet habe, in den Worten, die ich so oft benutzt habe, dass sie ihren Klang verloren. Ich habe mich zerlegt – in Nationen, in Systeme, in Egos und Expertisen. Und irgendwann wusste niemand mehr, wo mein Herz schlägt. Ich wollte vieles sein. Modern. Global. Menschlich. Aber oft war ich nur eines: müde. Müde, mich erklären zu müssen. Müde, stark sein zu sollen. Müde, alles reparieren zu müssen – und daran zu zerbrechen. Ich habe euch nie gesagt, wie einsam ich geworden bin. Wie sehr ich gehofft habe, dass mich jemand noch hört – nicht aus Pflicht, sondern aus Nähe. Ich habe euch nie gesagt, dass ich nicht ewig bin. Dass auch ein Kontinent sterben kann – nicht durch Feinde, sondern durch Gleichgültigkeit. Ich wollte es euch nicht aufbürden. Ich wollte bleiben, damit ihr keine Angst habt. Aber jetzt, wo ich fast verschwunden bin, kann ich es endlich sagen: Ich hatte Angst. Aber ich habe euch geliebt. Auf meine Weise – alt und widersprüchlich. Mit all meinen Narben, aus den Wunden, die ihr mir zugefügt habt. Und ich hätte gewollt, dass ihr es früher gewusst hättet.