von Étienne Valbreton
Manche Sendungen schaut man mit einer Art leiser Zuneigung, ohne genau zu wissen warum. „Le Monument préféré des Français“ ist ein solches Format. Hinter dem populären Wettbewerb verbirgt sich ein stilles, fast rituelles Innehalten: eine Wiederbegegnung mit Orten, Steinen und Landschaften, die uns etwas über uns selbst sagen. In diesem Jahr wurde der Parc Explor Wendel in Petite-Rosselle, ein stillgelegtes Bergwerk an der deutsch-französischen Grenze, zum Kandidaten der Region Grand Est gewählt. Eine Gegend geprägt von Arbeit, Grenzkonflikten, Kohle und Geschichte. Dass dieser Ort nominiert wurde, ist kein Zufall: Er steht für die stille Würde derer, die ihn einst mit ihrem Leben gefüllt haben.
Hinter dieser kollektiven Geste steht mehr als Heimatliebe. Es geht um emotionale Geografie. Wer für ein Denkmal stimmt, sagt damit auch: Das gehört zu uns. Das trauen wir uns zu erinnern. Frankreich zeichnet mit solchen Abstimmungen eine Karte des Zugehörigkeitsgefühls, eine Landschaft der weitergegebenen Erfahrung. Ein einfacher Akt, ja, aber ein bedeutungsvoller: Ein Volk, das benennt, was es liebt, benennt auch, was es weitergeben will.
Mich beschäftigt seit einiger Zeit eine Frage: Wäre so etwas auch in Deutschland denkbar? Ich meine damit nicht die äußerliche Kopie eines TV-Formats, sondern die mögliche symbolische Entsprechung: Gibt es in der öffentlichen Kultur der Deutschen einen Raum, in dem man offen sagen kann: Dieser Ort berührt mich. Er bedeutet mir etwas. Und das, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen?
Ich habe meine Zweifel. Nicht, weil es in Deutschland an Orten mangelte. Im Gegenteil: Die deutsche Landschaft ist reich an Ausdruck, an Kraft, an Tiefe. Was fehlt, ist der erzählbare Zusammenhang. Die Bereitschaft, einen kollektiven „Wir-Ort“ zu bejahen. Die deutsche Erinnerungskultur ist von Zurückhaltung geprägt, vom Misstrauen gegenüber Pathos, vom Wunsch, nicht zu verletzen. Jeder Stein verlangt eine Fußnote. Man restauriert, aber man beschwört nicht. Man bewahrt, aber liebt aus der Distanz. Als sei jede Form der Identifikation bereits ein Tabubruch.
Ich frage nicht aus Provokation. Sondern aus aufrichtiger Sorge. Ein Land, das seine Orte nicht mehr lieben darf, läuft Gefahr, sich in seiner eigenen Topografie nicht mehr wiederzuerkennen. Es wird blind für das, was es verbindet. Und ohne diese Verbindung wird Erinnerung schwer übertragbar. Was bleibt, sind Regeln, Institutionen, Verwaltung. Aber kein innerer Nachhall.
Ich sehe Deutschland mit Respekt. Manchmal mit Bewunderung. Aber auch mit der irritierenden Wahrnehmung, dass sein Verhältnis zum Raum seltsam stumm geworden ist. Als hätte die Angst, das Falsche zu meinen, jede mögliche Zuneigung verschütet. In Frankreich stimmen die Enkel von Bergleuten für einen Ort, den ihre Großväter mit den Händen erschaffen haben. In Deutschland stimmen viele für Unterhaltung, für Masken, für das Abstrakte. Die Darstellung hat die Anwesenheit ersetzt.
Ich glaube nicht, dass das unumkehrbar ist. Aber ich glaube, es ist an der Zeit, diese Frage zu stellen: Dürfen die Deutschen noch einen Ort lieben, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen? Und wenn ja – was hindert sie daran, es zu tun?
Anmerkung der Übersetzerin

Albertine Charlotte Berger
„Eine gute Übersetzung erkennt man nicht daran, dass sie getreu ist – sondern daran, dass sie den Leser heimlich zum Original zurückträumen lässt.“
Französisches Original | Deutsche Übersetzung | Begründung / Anpassung |
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Il existe des émissions que l’on regarde sans distance, avec une forme de tendresse sans objet. | Manche Sendungen schaut man mit einer Art leiser Zuneigung, ohne genau zu wissen warum. | „Tendresse sans objet“ wurde idiomatisch übersetzt, da die wörtliche Formulierung im Deutschen sperrig wirkt. Die gewählte Lösung bewahrt die emotionale Offenheit. |
Ce qui manque, c’est la possibilité d’un „nous“. | Was fehlt, ist der erzählbare Zusammenhang. | „Die Möglichkeit eines ‚Wir’“ wurde uminterpretiert in einen erzählbaren Zusammenhang – näher an der deutschen Sprachlogik, aber mit gleichem Aussagewert. |
Chaque pierre semble exiger une note de bas de page. | Jeder Stein verlangt eine Fußnote. | Hier wurde bewusst wörtlich übersetzt – die Metapher funktioniert hervorragend auch im Deutschen und behält ihre Ironie. |
La représentation a remplacé la présence. | Die Darstellung hat die Anwesenheit ersetzt. | Die wörtliche Übersetzung wurde beibehalten, da sie die philosophische Tiefe der Aussage präzise transportiert. |
Comme si tout attachement était suspect. | Als sei jede Form der Identifikation bereits ein Tabubruch. | Anstelle von „Bindung“ wurde „Identifikation“ gewählt – ein Begriff mit stärkerem politischen und kulturellen Gewicht im deutschen Kontext. |
Un pays qui ne s’autorise plus à aimer ses lieux […] court le risque de ne plus se reconnaître dans son propre paysage. | Ein Land, das seine Orte nicht mehr lieben darf, läuft Gefahr, sich in seiner eigenen Topografie nicht mehr wiederzuerkennen. | „Topografie“ wurde bewusst gewählt, da es im Deutschen sowohl geografisch als auch symbolisch funktioniert. Die Struktur wurde stilistisch geglättet. |
Sans transmission, que reste-t-il ? | Und ohne diese Verbindung wird Erinnerung schwer übertragbar. | Anstelle der kurzen Frage wurde eine erklärende Wendung eingebaut, um den Gedanken im Deutschen flüssiger fortzuführen. |
Je ne crois pas que cela soit irréversible. | Ich glaube nicht, dass das unumkehrbar ist. | Schlichte, aber bewusste Übersetzung – um die stille Hoffnung des Originals sprachlich nicht zu überfrachten. |
Mais je crois qu’il est temps de poser la question : […] | Aber ich glaube, es ist an der Zeit, diese Frage zu stellen: […] | Wörtlich übersetzt, da der Ton – dringlich, aber respektvoll – im Deutschen genauso funktioniert. |
Et si oui, qu’attendent-ils pour le dire ? | Und wenn ja – was hindert sie daran, es zu tun? | Etwas abgeschwächt im Ton – aus einer direkten Herausforderung wird eine nachdenkliche Rückfrage. So bleibt Étiennes Stil auch im Deutschen subtil. |
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