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Durchs Nadelöhr der Zukunft

Der Great Filter und die Frage, wie viele Zivilisationen den Atem anhalten

Etienne Valbreton

✍️ Etienne Valbreton

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📰 Medium: La Dernière Cartouche

Manchmal stolpern wir über ein Wort, das wie eine Falle wirkt. „Great Filter“ – groß und stumm, wie ein maschinenkaltes Sieb. Es klingt technisch, beinahe harmlos, und doch steht dahinter die wohl schrecklichste aller Fragen: Warum sehen wir niemanden da draußen? Warum antwortet niemand? Seit Enrico Fermi¹ , dieser nüchterne Italiener in der Mittagspause, sein Paradoxon murmelte – „Wo sind sie alle?“ – hängt es über uns wie ein kosmisches Echo¹. Die Wissenschaftler um Jonathan H. Jiang legen auf arXiv ein Papier vor, das diese Frage nicht ausweicht, sondern sie verschärft: Vielleicht gibt es etwas, das fast alle fortgeschrittenen Zivilisationen auslöscht, bevor sie Spuren hinterlassen können². Eine unsichtbare Schwelle, ein tödlicher Flaschenhals. Ein Filter.

Das Verstörende an dieser Idee ist nicht ihre Abstraktheit, sondern ihre Präzision. Sie zwingt uns, die Geschichte rückwärts zu lesen: Wenn wir niemanden hören, könnte es sein, dass es sie nie gab – oder dass sie den Filter nicht überlebten. In diesem Gedanken liegt ein unheimlicher Trost und ein tiefer Schrecken zugleich. Denn er legt eine Hypothese nahe, die fast unhöflich wirkt: Wir könnten selbst noch vor diesem Filter stehen.

Die nüchternen Listen der Autoren – nukleare Vernichtung, Pandemien, künstliche Intelligenz, die schneller denkt, als wir sie kontrollieren können, Klimakollaps, kosmische Einschläge – lesen sich wie die Schlagzeilen einer Zukunft, die wir längst entworfen haben³. Sie zeigen nicht nur, was uns bedroht. Sie legen frei, was wir schon begonnen haben. Der Filter ist keine metaphysische Nebelwand, sondern ein Inventar unserer eigenen Gefährlichkeit.

Es ist leicht, solche Szenarien zu überlesen, sie in dieselbe Schublade zu legen, in der auch Asteroidenfilme und Weltuntergangssekten verstauben. Aber das ist genau die Haltung, die der Filter misst. Nicht die Katastrophen allein töten Zivilisationen, sondern ihre Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen, bis es zu spät ist. Der Filter könnte nicht eine einzige große Explosion sein, sondern eine Reihe kleiner Betäubungen.

Manchmal wirkt das Fermi-Paradoxon wie eine höfliche Frage, aber es ist ein Urteil. „Wo sind sie?“ heißt: „Was stimmt nicht mit euch?“ Die Stille im All ist keine neutrale Leinwand; sie ist eine Warnung. Jeder Stern, an dem wir vorbeischauen, trägt das Schweigen all derer, die vielleicht aufbrachen – und nicht ankamen.

Zivilisation, das lernt man aus diesem Papier, ist kein endloser Aufstieg. Sie ist ein Nadelöhr. Jede Entdeckung, die uns erhebt, bohrt gleichzeitig ein Loch in den Boden. Jede Stufe der technischen Macht trägt einen Schatten: Sie weitet den Horizont und öffnet eine neue Möglichkeit zur Selbstzerstörung. Vielleicht haben wir dieses Nadelöhr schon betreten. Vielleicht sind wir längst mittendrin – auf halbem Weg zwischen Euphorie und Untergang.

Die Autoren sprechen von „institutionellen Reformen“, von „Risikomanagement“, von „gesellschaftlicher Verantwortung“. Das klingt beinahe bürokratisch, wie eine UN-Konferenz über die Zukunft. Aber unter diesen Begriffen brennt eine ältere Frage: Können wir Technologien entwickeln, ohne sie zu vergöttern? Können wir Macht verstehen als Bürde, nicht als Besitz? Können wir anerkennen, dass der Himmel uns nicht gehört, sondern uns überlassen wurde – wie eine Leihgabe, nicht wie eine Trophäe?

Der Great Filter verschlingt Geschichte. Er sagt: Alles, was ihr wart, alles, was ihr bautet – es könnte in einer Staubwolke enden. Aber darin liegt auch ein seltsamer Trost. Wenn wir den Filter benennen können, können wir ihn vielleicht umstellen. Was wäre, wenn der Filter nicht nur eine Wand ist, sondern ein Spiegel? Er zeigt uns, was uns auslöschen könnte – und zwingt uns, es zu vermeiden.

Vielleicht wird die Menschheit in ein paar Jahrtausenden wie ein Funken in der kosmischen Nacht verlöschen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht gelingt es uns, den Filter nicht nur zu überstehen, sondern ihn in eine Schwelle zu verwandeln. Dann wären wir nicht mehr nur Überlebende, sondern endlich Zeugen.

📦 Die Wissenschaftler hinter dem Paper

Jonathan H. Jiang – leitender Wissenschaftler am Jet Propulsion Laboratory (NASA), spezialisiert auf Astrophysik und Systemanalysen.
Philip Lubin – Physiker an der University of California, Santa Barbara, bekannt für Weltraumtechnologie- und SETI-Projekte.
Adam Frank – Astrophysiker an der University of Rochester, forscht zu Exoplaneten und Zivilisationsmodellen.
Ken Caldeira – Klimawissenschaftler, lange Zeit am Carnegie Institution for Science, mit Schwerpunkt Geoengineering.
Anders Sandberg – Futurist und Philosoph an der Oxford University (Future of Humanity Institute), bekannt für Szenarien zu Existenzrisiken.

📝 Bemerkenswert: Diese Mischung aus Raumfahrt, Klimaforschung und Zukunftsethik macht das Paper zu mehr als einem astronomischen Gedankenspiel – es ist ein Versuch, Wissenschaft und Selbstreflexion zu verbinden.

🔗 PDF: „Avoiding the Great Filter: Extraterrestrial Life and Humanity’s Future in the Universe“ (arXiv) – Originalveröffentlichung Oktober 2022

Fußnoten

¹ Enrico Fermi formulierte 1950 in Los Alamos das nach ihm benannte Paradoxon – eine beiläufige Frage über Mittag, die zum Menetekel wurde.
² Jiang, Jonathan H. u. a.: Avoiding the “Great Filter”: Extraterrestrial Life and Humanity’s Future in the Universe, arXiv:2210.10582 [astro-ph.EP], 2022.
³ Die Autoren nennen als „Filterkandidaten“ unter anderem nukleare Kriege, Pandemien, unkontrollierte künstliche Intelligenz, Klimakrise und planetare Einschläge (ebd., S. 2–5).
Ebd., S. 6: Empfehlungen zur „institutional governance“ und zu „collective reforms“, die mehr sind als Verwaltungsvokabeln – sie sind die dünne Linie zwischen uns und der Statistik des Schweigens.

2 Kommentare
  1. parsana sarabadani
    parsana sarabadani sagte:

    Der Text wirft ein Licht auf eine der größten Fragen unserer Existenz und auf eine Wahrheit, die wir oft verdrängen: Vielleicht sind wir selbst der Grund, warum das Universum so still ist. Diese Vorstellung schmerzt, denn sie legt die Verantwortung nicht in ferne Galaxien, sondern direkt in unsere Hände. Doch die größte Gefahr ist nicht nur die Technik oder der Klimawandel. Es ist unser zögerliches Bewusstsein, das Warten auf einfache Lösungen und das Verschließen vor unangenehmen Wahrheiten. Wie viele Warnungen müssen noch verhallen, bevor wir erkennen, dass Fortschritt ohne Besonnenheit nicht Fortschritt, sondern Selbstzerstörung bedeutet? Der Great Filter mag real sein aber er fordert von uns keine kosmische Macht, sondern die menschliche Fähigkeit zur Einsicht, zum Wandel und zur Demut. Ob wir diese Prüfung bestehen, hängt weniger von Technologie ab als von unserer Bereitschaft, uns selbst ehrlich zu begegnen.

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