UNO-Verwaltung und der Reflex des Westens
Warum Verhandlungen kein Verrat sind
„Man verhandelt nicht mit Freunden. Man verhandelt mit Feinden.“
Man sollte sich nichts vormachen. Die Geschichte Europas, ja der Welt, ist keine Abfolge von Gerechtigkeiten, sondern von Machtverschiebungen – begleitet von diplomatischen Notbehelfen, Übergangsverwaltungen und trügerischen Vereinbarungen.
Der Westen ist empört. Wladimir Putin schlägt vor, die von Russland kontrollierten Gebiete in der Ukraine einer UNO-Verwaltung zu übergeben – als Übergangsmodell. Man spricht von Zynismus, Täuschung, Propaganda. Doch in der Realität der Machtpolitik ist dieser Vorschlag alles andere als außergewöhnlich. Er ist fast banal.
Wenn zwei Seiten sich in einem Krieg gegenseitig zermürbt haben, ohne Aussicht auf vollständigen Sieg, übernimmt oft eine dritte Kraft das Feld. In Beirut standen die Soldaten des Völkerbunds neben den Milizen der Amal. In Kambodscha verwaltete die UNO ein zerschlagenes Land, das nie mehr zu sich kam. In Bosnien wurde ein ethnisch fragmentiertes Gebilde durch internationale Präsenz zusammengehalten – ein Konstrukt, das nur mit ständiger Beatmung von außen überlebensfähig blieb.
Putins Vorschlag – wie auch immer man ihn moralisch bewerten mag – ist nichts anderes als die Fortschreibung dieser geopolitischen Praxis. Diejenigen, die heute empört aufschreien, täten gut daran, ihre eigenen Geschichtsbücher zu konsultieren – oder besser: sich einmal in jene Gegenden zu begeben, wo die Welt nicht von der „regelbasierten Ordnung“ regiert wird, sondern von Waffen, Deals und Zwischenlösungen.
Auch der Westen hat Gebiete militärisch besetzt, kontrolliert, unter fremde Verwaltung gestellt – im Namen der Stabilität, der Demokratie oder schlicht des Rohstoffs. Das Saargebiet, Namibia, Kosovo, Osttimor – sie alle waren Phasenräume nach Konflikten, kein ewiger Frieden, aber ein Arrangement, das vorläufig funktionierte.
Historische UNO-Verwaltungen
- Saargebiet (1920–1935): Völkerbund-Verwaltung, Abstimmung nach 15 Jahren.
- Kosovo (ab 1999): UNMIK-Verwaltung unter NATO-Schutz.
- Osttimor (1999–2002): UNO-Übergangsverwaltung nach indonesischer Besetzung.
- Bosnien-Herzegowina (ab 1995): Internationale Aufsicht nach Dayton.
- Namibia (1978–1990): UN-Mandat bis zur Unabhängigkeit.
- Zypern (seit 1974): UNO-Pufferzone nach Teilung der Insel.
Man kann die Rückgabe der annektierten Gebiete fordern. Man kann auf vollständige Wiederherstellung pochen. Aber man sollte dabei nicht vergessen: Die Sprache der Macht ist nicht identisch mit der Sprache der Empörung.
In westlichen Hauptstädten wird gesagt: „Die Ukraine muss gewinnen – Verhandlungen sind ausgeschlossen.“ Das ist kein Realismus, das ist eine Liturgie. Und wie bei allen Dogmen gilt: Wer sich weigert, über Alternativen zu sprechen, hat die Kontrolle über die Realität bereits verloren.
Man verhandelt nicht mit Freunden, man verhandelt mit Feinden. Und wenn die UNO – bei aller Schwäche – noch immer ein Forum dafür ist, dann sollte man dieses Fenster nutzen, bevor es sich schließt. Denn der nächste Winter wird nicht nur auf dem Schlachtfeld entschieden – sondern in den Depots der Diplomatie.
Doch vielleicht will man diesen Frieden gar nicht mehr. Denn parallel zur militärischen Eskalation vollzieht sich eine ökonomische. In Berlin, Brüssel und Paris wird längst über neue Produktionsketten, Investitionsprogramme und „wehrhafte Industriepolitik“ gesprochen. Rüstung als Konjunktur.
Wer die Deindustrialisierung aufhalten will, braucht einen Ersatzmotor. Doch noch nie hat eine Gesellschaft, die sich wirtschaftlich auf Rüstung stützte, langfristig Stabilität gewonnen. Was als Schutzmaßnahme beginnt, endet oft als Abhängigkeit. Und diese Abhängigkeit braucht irgendwann den Krieg – nicht als Notwendigkeit, sondern als Geschäftsmodell. Dann ist nicht der Frieden das Ziel – sondern der Ausnahmezustand die neue Normalität.
Pierre Marchand
Politischer Redakteur bei La Dernière Cartouche
Rubriken: Cartouches Perdues, (Die verlorene Patone) & Politik