UNO-Verwaltung und der Reflex des Westens

Warum Verhandlungen kein Verrat sind

Pierre Marchand Siegel

✍️ Pierre Marchand

📖 Über den Autor lesen

Pierre Marchand schreibt für La Dernière Cartouche über imperiale Linien, tektonische Verschiebungen und die wahren Bewegungen hinter den Flaggen. Er ist kein Kommentator, sondern Chronist – nicht von Ereignissen, sondern von Zusammenhängen. Geprägt von der Schule Scholl-Latours, denkt er kontinental, schreibt verdichtet und urteilt nie schneller, als er recherchiert. Marchand war lange als Auslandskorrespondent in Algerien, Jugoslawien, der Sahelzone und zuletzt in der Osttürkei unterwegs. Er glaubt nicht an Verschwörungen – aber an Interessen. Und an das Gedächtnis der Geographie.

📂 Rubrik: Politik & Geschichte
🗓️ Veröffentlichung: 28. März 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

„Man verhandelt nicht mit Freunden. Man verhandelt mit Feinden.“

Man sollte sich nichts vormachen. Die Geschichte Europas, ja der Welt, ist keine Abfolge von Gerechtigkeiten, sondern von Machtverschiebungen – begleitet von diplomatischen Notbehelfen, Übergangsverwaltungen und trügerischen Vereinbarungen.

Der Westen ist empört. Wladimir Putin schlägt vor, die von Russland kontrollierten Gebiete in der Ukraine einer UNO-Verwaltung zu übergeben – als Übergangsmodell. Man spricht von Zynismus, Täuschung, Propaganda. Doch in der Realität der Machtpolitik ist dieser Vorschlag alles andere als außergewöhnlich. Er ist fast banal.

Wenn zwei Seiten sich in einem Krieg gegenseitig zermürbt haben, ohne Aussicht auf vollständigen Sieg, übernimmt oft eine dritte Kraft das Feld. In Beirut standen die Soldaten des Völkerbunds neben den Milizen der Amal. In Kambodscha verwaltete die UNO ein zerschlagenes Land, das nie mehr zu sich kam. In Bosnien wurde ein ethnisch fragmentiertes Gebilde durch internationale Präsenz zusammengehalten – ein Konstrukt, das nur mit ständiger Beatmung von außen überlebensfähig blieb.

Putins Vorschlag – wie auch immer man ihn moralisch bewerten mag – ist nichts anderes als die Fortschreibung dieser geopolitischen Praxis. Diejenigen, die heute empört aufschreien, täten gut daran, ihre eigenen Geschichtsbücher zu konsultieren – oder besser: sich einmal in jene Gegenden zu begeben, wo die Welt nicht von der „regelbasierten Ordnung“ regiert wird, sondern von Waffen, Deals und Zwischenlösungen.

Auch der Westen hat Gebiete militärisch besetzt, kontrolliert, unter fremde Verwaltung gestellt – im Namen der Stabilität, der Demokratie oder schlicht des Rohstoffs. Das Saargebiet, Namibia, Kosovo, Osttimor – sie alle waren Phasenräume nach Konflikten, kein ewiger Frieden, aber ein Arrangement, das vorläufig funktionierte.

Historische UNO-Verwaltungen

  • Saargebiet (1920–1935): Völkerbund-Verwaltung, Abstimmung nach 15 Jahren.
  • Kosovo (ab 1999): UNMIK-Verwaltung unter NATO-Schutz.
  • Osttimor (1999–2002): UNO-Übergangsverwaltung nach indonesischer Besetzung.
  • Bosnien-Herzegowina (ab 1995): Internationale Aufsicht nach Dayton.
  • Namibia (1978–1990): UN-Mandat bis zur Unabhängigkeit.
  • Zypern (seit 1974): UNO-Pufferzone nach Teilung der Insel.

Man kann die Rückgabe der annektierten Gebiete fordern. Man kann auf vollständige Wiederherstellung pochen. Aber man sollte dabei nicht vergessen: Die Sprache der Macht ist nicht identisch mit der Sprache der Empörung.

In westlichen Hauptstädten wird gesagt: „Die Ukraine muss gewinnen – Verhandlungen sind ausgeschlossen.“ Das ist kein Realismus, das ist eine Liturgie. Und wie bei allen Dogmen gilt: Wer sich weigert, über Alternativen zu sprechen, hat die Kontrolle über die Realität bereits verloren.

Man verhandelt nicht mit Freunden, man verhandelt mit Feinden. Und wenn die UNO – bei aller Schwäche – noch immer ein Forum dafür ist, dann sollte man dieses Fenster nutzen, bevor es sich schließt. Denn der nächste Winter wird nicht nur auf dem Schlachtfeld entschieden – sondern in den Depots der Diplomatie.

Doch vielleicht will man diesen Frieden gar nicht mehr. Denn parallel zur militärischen Eskalation vollzieht sich eine ökonomische. In Berlin, Brüssel und Paris wird längst über neue Produktionsketten, Investitionsprogramme und „wehrhafte Industriepolitik“ gesprochen. Rüstung als Konjunktur.

Wer die Deindustrialisierung aufhalten will, braucht einen Ersatzmotor. Doch noch nie hat eine Gesellschaft, die sich wirtschaftlich auf Rüstung stützte, langfristig Stabilität gewonnen. Was als Schutzmaßnahme beginnt, endet oft als Abhängigkeit. Und diese Abhängigkeit braucht irgendwann den Krieg – nicht als Notwendigkeit, sondern als Geschäftsmodell. Dann ist nicht der Frieden das Ziel – sondern der Ausnahmezustand die neue Normalität.

Pierre Marchand
Politischer Redakteur bei La Dernière Cartouche
Rubriken: Cartouches Perdues, (Die verlorene Patone)  & Politik

WEITERE ARTIKEL IN DIESEM THEMENBEREICH:

Das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin© Bildrechte: La Dernière Cartouche / LdLS

Gedenken ohne Geschichte – Wie der 8. Mai zur Waffe wurde

Wer am 8. Mai Gedenken politisch instrumentalisieren will, sollte mit der Geschichte vorsichtig umgehen. Der Beitrag „Man feiert nicht mit Mördern. Auch nicht am 8. Mai“ von Leander F. Badura behauptet, der Ausschluss Russlands von der Gedenkveranstaltung im Bundestag sei „logisch“ – weil Moskau gegen die Ukraine Krieg führt.
THE WORLD AFTER GAZA© Bildrechte: La Dernière Cartouche / LdLS
,

Darüber müssen Bibliotheken geschrieben werden

m seinem neuesten Buch Die Welt nach Gaza (2025) geht es um die historischen Entwicklungen, die zum immerwährenden Konflikt um diese Region geführt haben, und, leider, auch noch lange führen werden. Die Flut von Blickwinkeln, die Menge an Material, die Mishra in seiner Arbeit heranschafft, macht perplex und neugierig.
KIESINGER DE GAULLE UND BRANDT© Bildrechte: La Dernière Cartouche / LdLS

Brücken über Gräber – Frankreich und Deutschland auf dem Weg zur Freundschaft

Ein Rückblick von Louis de la Sarre, mit redaktioneller Begleitung und Zwischenbemerkungen von Pierre Marchand Die Geschichte der deutsch-französischen Versöhnung ist eine Geschichte der Staatsmänner. Ihrer Entschlossenheit verdankt Europa seine friedlichste Epoche nach Jahrhunderten von Kriegen.
KARRENBAUER-ALTMEYER MAAS HONECKER© Bildrechte: La Dernière Cartouche / LdLS

Lieber ahnungslos als saarländisch?

Nina Warken ist Baden-Württembergerin. Sie stammt aus Bad Mergentheim , sitzt für Heilbronn im Bundestag – und hat mit dem Saarland so viel zu tun wie eine Lyoner mit veganem Aufschnitt.