Was bleibt vom Humanismus?

REMARQUE : LA TRADUCTION EST EN COURS ET L'ARTICLE SERA BIENTÔT PUBLIÉ.
Etienne Valbreton Siegel

✍️ Etienne Valbreton

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Geboren 1978 in Lyon, studierte Philosophie, Literatur- und Medientheorie in Straßburg, Weimar und Montréal. Lehrte an verschiedenen Kunsthochschulen, bevor er sich ganz dem Schreiben zuwandte. Liebt den Geruch alter Buchdeckel, das Geräusch von Rolltreppen in stillen Bahnhöfen und die Lücken zwischen Gebäuden. Spricht selten – aber wenn, dann wie ein Nachsatz von Roland Barthes.

📂 Rubrik: Philosophie & Gesellschaft
🗓️ Veröffentlichung: 07. April 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Der Humanismus, eine der mächtigsten Ideen der Moderne, wird heute oft als Relikt der Vergangenheit gesehen. Doch was bedeutet er noch in einer Welt, die zwischen globaler Krise und politischer Zerrissenheit steht? In diesem Essay geht Étienne Valbreton der Frage nach, was der Humanismus heute noch zu bieten hat und warum er in der aktuellen Zeit immer wieder an seine Grenzen stößt.

Ein Essay von Étienne Valbreton

Es gab einmal eine Zeit, da war der Mensch ein Versprechen. Nicht in den Augen der Götter, sondern in den eigenen. Die frühen Humanisten der Renaissance – Erasmus, Pico della Mirandola, Montaigne – glaubten nicht an die makellose Natur des Menschen, sondern an seine Fähigkeit, sich zu bessern. Bildung, Vernunft, Freiheit: das waren die neuen Säulen einer alten Sehnsucht. Der Mensch sollte sich erheben, nicht durch Gehorsam, sondern durch Einsicht. Der Humanismus war geboren – nicht als Utopie, sondern als Methode der Hoffnung.

Die Aufklärung griff dieses Erbe auf. Kant, der nüchterne Preuße, forderte den Menschen auf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Rousseau, der leidenschaftliche Romantiker, glaubte an die Ursprünglichkeit des Guten im Menschen. Gemeinsam schufen sie ein Bild vom Menschen, der sich selbst erziehen und erlösen konnte. Religion wurde zur Privatsache, Vernunft zur neuen Autorität.

Doch die Geschichte lachte. Zwei Weltkriege, industrielle Vernichtungslager, der Kalte Krieg: das 20. Jahrhundert trug die Gebeine des alten Humanismus wie Trophäen. Bildung hatte nicht verhindert, dass aus Professoren Mörder wurden. Kultur hatte nicht bewahrt, was zivilisatorisch als gesichert galt. Der Humanismus war nicht tot, aber schwer verwundet. Seine Worte klangen hohl in einer Welt, die gelernt hatte, dass Vernunft und Grausamkeit keine Gegensätze sind.

Heute lebt der Humanismus weiter – als Ahnung, als Etikett, als höflicher Reflex. Politiker berufen sich auf ihn, Akademiker verwalten ihn, Aktivisten plakatieren ihn. Doch wer tiefer blickt, spürt die Erosion. Humanismus ist zur Phrase verkommen, weil er nicht mehr gegen die rohe Realität verteidigt wird. Er ist der höfliche Schatten einer Idee, deren Tragkraft kaum noch geprüft wird.

Die Flüchtlingskrise ist ein Prüfstein. Ein wahrer Humanist sieht den Menschen, nicht seine Herkunft. Doch was, wenn Mitgefühl zu Selbstaufgabe wird? Was, wenn offene Arme eine Gesellschaft destabilisieren? Der Humanismus fordert Hilfe – aber er schweigt über die Grenzen des Möglichen. Er bietet keine Antwort auf die Frage, wann Hilfe zur Selbstzerstörung wird. Genau hier beginnt seine Schwäche: seine Unfähigkeit, Maß zu halten. Seine Blindheit für das eigene Übermaß.

Religion kennt diese Gefahr. Der biblische Imperativ der Nächstenliebe ist mächtig, aber er wird begrenzt durch die Ordnung der Gemeinschaft. Der Hirte liebt seine Schafe, aber er schützt sie auch. Nächstenliebe verlangt Opfer, aber nicht den Untergang. Der säkulare Humanismus hingegen, losgelöst von religiöser Ordnung, weiß oft nicht, wann Großmut zum Verrat an der eigenen Gemeinschaft wird.

Moderne Varianten des Humanismus – der säkulare, der integrale, der postmoderne – versuchen, Antworten zu geben. Sie berufen sich auf universelle Rechte, auf transkulturelle Werte, auf globale Solidarität. Aber je abstrakter sie werden, desto weniger greifen sie in der rauen Wirklichkeit. Ein Humanismus, der überall sein will, ist am Ende nirgends zu Hause.

Historisch gesehen war Humanismus immer mehr Methode als Dogma. Er bedeutete, den Menschen ernst zu nehmen – seine Fähigkeiten, aber auch seine Abgründe. Erasmus kannte die Torheit des Menschen besser als seine Heiligkeit. Montaigne vertraute mehr der Skepsis als der Predigt. Wer heute den Humanismus retten will, muss zu dieser Ehrlichkeit zurückkehren: der Mensch ist edel, aber zerbrechlich. Frei, aber fehlbar. Fähig zu Größe, aber auch zur tiefsten Niedertracht.

Die politische Wirklichkeit fordert den Humanismus heraus. Identitätspolitik, populistische Bewegungen, kulturelle Entwurzelung: überall zeigen sich Fronten, an denen abstrakte Ideale auf konkrete Ängste treffen. Hier kann der Humanismus nicht mit Floskeln antworten. Er muss erklären, wo seine Grenzen liegen. Er muss unterscheiden zwischen Hilfe und Selbstvernichtung. Er muss den Mut finden, nicht nur „Ja“ zu sagen, sondern auch „Nein“ – aus Verantwortung, nicht aus Hass.

Vielleicht ist das die letzte Würde des Humanismus: sich nicht zu verkaufen. Weder an den Markt, der den Menschen zur Ware macht, noch an die Politik, die ihn zur Zielscheibe formt. Der Humanismus darf nicht blind sein. Er muss die Welt sehen, wie sie ist – und trotzdem bestehen auf der Möglichkeit, dass sie anders sein könnte.

Aber er darf auch nicht naiv sein. Er darf sich nicht selbst auflösen in einer grenzenlosen Humanität, die am Ende den Menschen selbst vergisst. Wahre Menschenliebe liebt nicht die Menschheit als Idee, sondern den Einzelnen als Wirklichkeit. Sie weiß, dass Rettung nicht immer möglich ist – aber Anstand immer nötig.

Die Zukunft des Humanismus hängt davon ab, ob er diese Balance wiederfindet. Ob er aufhört, sich in Phrasen zu erschöpfen. Ob er bereit ist, sich zu wehren.
Nicht mit Waffen, sondern mit Klarheit. Nicht mit Empörung, sondern mit Standhaftigkeit.

Ein Humanismus, der seine eigenen Werte verrät, wird untergehen. Ein Humanismus, der sich selbst ernst nimmt, könnte noch überleben. Als leises, trotziges Licht in einer dunkler werdenden Welt.

La Dernière Cartouche weiß: Die Wahrheit hat noch eine Kugel. Und sie wird nicht leichtfertig verschossen.

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