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Konsens auf Prüfstand
Der Fall Brosius‑Gersdorf ist zur Causa geworden.
Die verfahrene Situation um die Kandidatur der Staatsrechtlerin zeigt die Bruchstellen eines politischen Systems, das sich über Jahrzehnte bewährt hat, nun aber mit der Dynamik zeithistorischer Entwicklungen nicht mehr Schritt halten kann. Jahrzehntelang funktionierte Westdeutschland als Konsensrepublik. Ein ausgeklügelter Proporz sorgte bis zum Aufkommen rechtsextrem eingestufter Parteien (wie der AfD) dafür, welche Parteien und Gruppierungen ihre Kandidaten in welcher Zahl in Schlüsselpositionen von Staat, Kultur, Justiz und Wirtschaft unterbringen konnten. Bisweilen kam es vor, dass solche Repräsentanten für ihre Funktion nur wenig Qualifikationen aufwiesen. Dies aber sei nur am Rande bemerkt.
Am Beispiel der öffentlich‑rechtlichen Rundfunkanstalten lässt sich Struktur und Kinetik dieses politischen Mappings plastisch zeigen: Ulrich Wilhelm, ehemaliger Moderator der heute‑Nachrichten, wurde Regierungssprecher (2005–2010) und später BR‑Intendant (2011–2021) – während Steffen Seibert, Merkels späterer Regierungssprecher, heute deutscher Botschafter in Israel ist. Solche Karrieren verdeutlichen die enge Durchlässigkeit zwischen Medien, Politik und staatlichen Spitzenposten. Wie solche Prozesse im Detail ablaufen, kann von mir nicht beurteilt werden. Ebenso wenig weiß ich über die anschließende Prüfung der Arbeitseffizienz der Kandidaten (ich hoffe da ganz auf die neue CDU‑geführte Regierung, die seit Januar 2025 unter Kanzler Friedrich Merz im Amt ist und bekanntlich unablässig vom längeren und intensiveren Arbeiten der Deutschen spricht). Vielleicht liegt hier lediglich anekdotische Evidenz vor, die meinen Blick verstellt. Meistens jedoch wurde ich in der Lebenspraxis beim Kontakt mit Rundfunkräten (auch deren Gremien sind Proporzsysteme der Parteienrepräsentation) als Kritiker und Petent durch dröhnende Stille belohnt.
Im Falle der höchsten Staatsämter stelle ich mir nun vor, dass Kandidaten und Bewerberinnen einen geeigneten Auswahlprozess durchlaufen müssen. An der wissenschaftlichen Qualifikation Frauke Brosius‑Gersdorfs bestand schon aufgrund ihrer beeindruckenden Zahl an Abschlüssen und Publikationen sicherlich kaum Zweifel. Was ihre gesellschaftlichen und politischen Positionen anbelangt, hätten ihre Kritiker (oder solche, die es im Laufe der Entwicklung werden sollten) allerdings recherchieren müssen, wie es sich für eine abgerundete Beurteilung gehört. Das zeitverzögerte Abspringen potenzieller Unterstützer aber zeigt einerseits Bereitschaft, Meinungen zu ändern, andererseits aber auch Defizite in der Vorarbeit auf.
Frau Brosius‑Gersdorf hat angekündigt, ihre Kandidatur zurückzuziehen, wenn sonst eine Regierungskrise droht. Bislang hält sie jedoch an ihrer Bewerbung fest.
Wie kommt die Koalition, die selbst auch eine solche der Konsensrepublik ist, aus dieser Situation heraus? Die CDU/SPD‑Koalition unter Kanzler Friedrich Merz, die seit Januar 2025 regiert, muss sich nun auf eine Linie einigen, um den Populisten nicht noch mehr Steilvorlagen für ihre fieberhafte und höhnische Systemkritik zu liefern. Vermutlich wäre Frau Brosius‑Gersdorf als Verfassungsrichterin niemals mit den Themenbereichen in Kontakt gekommen, die ihr als Trigger vorgeworfen wurden. Sicherlich kann sie auch Amt und Meinung trennen, so wie es momentan entlastend bei denjenigen Beamten auf Probe diskutiert wird, die Mitglied in Parteien sind, die als Verdachtsfall gelten. Dennoch wäre nach einem Rückzug ratsam, wenn die Koalition in einem hochtransparenten (!) öffentlichen Bewerbungsverfahren Kandidaten diskutierte, die für die regierenden Parteien über jeden juristischen und/oder gesellschaftlichen Zweifel erhaben sind. Ohne eine solche Transparenz geriete die Bundesrepublik in noch schwereres Fahrwasser.
Im gleichen Zuge müsste geprüft werden, wie lange das alte Proporzsystem noch am Leben gehalten werden soll. Ich denke dabei an die ewig verspätete Bahn und ihr parteienbestimmtes, obszön hochbezahltes Management. Ich denke an die Überfinanzierung eines Mediensystems, das zwar gelegentlich hochprofessionelle Arbeiten abliefert, aber ansonsten durch Gehälter glänzt, von denen Bundeskanzler nur träumen können. Ich denke an die Verflechtung von Autokonzernen mit der Politik und technische, nahezu amtliche Prüfsysteme, die für Dammbrüche in Brasilien und die Verwendung von gesundheitsschädlichem Industriesilikon in Brustimplantaten (PIP‑Fall 2010) verantwortlich zeichnen, nachdem sie für ihre mangelhafte Expertise gut bezahlt und weitgehend protegiert wurden.
Wird all dies nicht unmittelbar angegangen, diskreditiert sich die gute alte Bundesrepublik noch weiter. Brosius‑Gersdorfs Scheitern ist ein Symptom.
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