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Von der Fabrik der Wirklichkeit: Netflix’ „Tapie“
Eine Analyse der Verzerrung
Zwischen Glanz und Verfall:
Eine kritische Lektüre der Netflix-Serie „Tapie“
Die Netflix-Serie Tapie, international als Class Act beworben, präsentiert sich mit der bequemen, doch irreführenden Floskel, sie sei „von realen Fakten inspiriert“¹. Was in der heutigen Medienlandschaft allzu oft als Freifahrtschein für künstlerische Freiheit missverstanden wird, entpuppt sich im Fall dieser Produktion als ein Lehrstück der selektiven Darstellung und bewussten Fiktionalisierung. Sie ist kein „Class Act“, sondern vielmehr ein intellektuell fragwürdiges Werk, das die komplexe und oft moralisch ambivalente Realität einer der schillerndsten Figuren Frankreichs zugunsten einer glatten, dramaturgisch konsistenten Erzählung opfert. Hier geht es nicht um die poetische Verdichtung von Ereignissen, sondern um eine Verfälschung von Ursachen, Netzwerken und den kalten, harten Fakten, die das Leben Bernard Tapies geformt haben².
Schon die Fundamente der ersten Episode, die Tapies Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen skizzieren, ruhen auf einem Gerüst aus narrativer Bequemlichkeit. Während seine Anfänge als Sänger und Geschäftsmann historisch belegt sind, wird sein reales Projekt Cœur Assistance durch die frei erfundene Figur eines „1-Euro-Anwalts“ trivialisiert. Dieser Kunstgriff dient einzig dazu, Tapies populistische Ader zu unterstreichen, verharmlost aber die Tatsache, dass dieses Unternehmen nach wenigen Jahren scheiterte und zu einer Verurteilung wegen irreführender Werbung führte – ein frühes Indiz für die Methoden, die seine gesamte Laufbahn prägen sollten². Die Erfindung eines fiktiven Antagonisten namens „Mr. Loiseau“ ersetzt die unübersichtliche Realität früher Geschäftspleiten durch einen simplen Plot von Verrat und Wiederaufbau. Solche Manipulationen sind nicht hinnehmbar, da sie die wahren Ursachen seiner frühen Rückschläge verschleiern und stattdessen eine mythische Erzählung vom ewigen Kämpfer konstruieren⁹.
Auch in der Darstellung seiner Geschäftsstrategien, die bankrotte Firmen wie Wonder-Batterien sanieren sollten, offenbart die Serie eine fatale Oberflächlichkeit². Ein grundlegender faktischer Fehler, die Verwechslung von Le Coq Sportif mit Lacoste, ist weniger ein harmloser Lapsus als ein Symptom einer schockierend nachlässigen Recherche. Die Erfindung einer „Waschmaschine mit doppelter Trommel“ ist ein weiterer Akt der Trivialisierung, der von der oft rücksichtslosen und harten Realität seiner Übernahmen ablenkt, die nicht selten mit Massenentlassungen einhergingen. Hier wird die kalte Logik der Wirtschaft durch eine erfundene, technophile Anekdote ersetzt, die dem Publikum eine simplifizierte Welt vorspiegelt.
Die Verschiebung chronologischer Ereignisse, wie die berühmte Fernsehdebatte mit Jean-Marie Le Pen, ist ein bewusstes Werkzeug der Dramaturgie. Sie ist nicht bloß eine Unschärfe, sondern eine Manipulation, die die Abfolge von Tapies Aufstieg und die kausalen Zusammenhänge verzerrt. Seine politische Karriere, die ihn als Opportunisten von der Rechten zur Linken führte, wird zugunsten eines glatten, linearen Narrativs geopfert² ¹⁰. Die Komplexität, die seinen wahren Weg in die Nationalversammlung und in die Regierung bestimmte, wird verschluckt.
Am deutlichsten zeigt sich der Verrat an der Wirklichkeit im Umgang mit dem Adidas-Skandal und seiner Haftstrafe¹⁰. Die Serie reduziert den jahrzehntelangen Rechtsstreit mit Crédit Lyonnais, einen juristischen und politischen Sumpf, der bis zu Tapies Tod andauerte, auf einen simplen „Verlust“. Sie ignoriert die „Ketten und Netzwerke“ der Macht, die diesen Skandal zu einem Lehrstück über die Verflechtung von Politik, Justiz und Finanzwelt machten. Die Behauptung, Tapie habe seine Haftstrafe im VA-OM-Skandal als „Sieg“ betrachtet, ist der Gipfel dieser Verhöhnung der Fakten⁹. Es ist eine gefährliche Romantisierung kriminellen Verhaltens, die die Schwere seiner Verfehlungen zugunsten einer selbstverherrlichenden und moralisch fragwürdigen Botschaft verharmlost.
Der Schlussakt der Serie ist eine bewusste Lüge. Nach seiner Haft kehrte Tapie ins öffentliche Leben zurück, kämpfte bis zu seinem Tod¹⁸ unermüdlich in Gerichtsverfahren und trat als Schauspieler und Medienunternehmer in Erscheinung¹⁰. Die Serie jedoch liefert dem Publikum ein sentimentales, erfundenes Ende, in dem er „bereit ist, das Geschäft, die Politik und das Fernsehen hinter sich zu lassen, um bei seiner Familie zu sein, seine Mission endlich erfüllt.“ Dies widerspricht der unerbittlichen Realität seines Lebens bis zum letzten Atemzug und ist eine Verklärung, die dem Publikum eine bequeme, aber zutiefst falsche Botschaft liefert⁹.
Die Netflix-Serie Tapie ist ein Musterbeispiel dafür, wie „von realen Fakten inspiriert“ zu einer Lizenz für die Fabrikation von Wirklichkeit wird. Sie manipuliert nicht nur Details, sondern verzerrt die grundlegende Natur von Tapies Handlungen, die Netzwerke seiner Macht und die tatsächlichen Konsequenzen seines Handelns. Für jeden, der an der komplexen, ungeschönten Wahrheit interessiert ist, ist diese Serie eine Enttäuschung – eine weitere Schicht in der Fabrik der Wirklichkeit, die es mit kritischem Blick zu dekonstruieren gilt.
Fußnoten
[^1]: Wikipedia (französisch) – Biografie Bernard Tapie [^2]: INRNG – Nachruf Bernard Tapie [^7]: OM.fr – Tapie & Marseille [^9]: Collider – Netflix-Serie „Class Act“ vs. Realität [^10]: Pinsent Masons – Adidas-/Crédit-Lyonnais-Affäre [^18]: Yahoo France – Familiäres Profil & letzter Lebensabschnitt
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