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Der Sommer, in dem alles zusammenbrach

Von einem, der einfach nur mit seiner Familie ans Meer wollte

Jack OReilly

✍️ Jack OReilly

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📰 Medium: La Dernière Cartouche
2035

„Es wird besser als letzes Mal – versprochen“, sagte ich zu meiner Frau, als wir an diesem Samstagmorgen im August unseren neuen T6 E-Van X auf der Einfahrt rollten. Stuttgart noch schlafend, die Kinder noch still – und wir voller Hoffnung. Ziel: Milano Marittima. Eine Woche Italien. Eine Woche Pause vom Alltag. Diesmal hatten wir alles richtig gemacht: Lade-App 4.1.35, Premium-Konten, zwei reservierte Slots am Brenner und kurz vor Bologna, Strompass digital geladen. Es war alles vorbereitet. Dachten wir.

Was folgte, war kein Urlaub. Es war ein logistischer Fehlschlag, ein psychologisches Minenfeld – und die bittere Erkenntnis, dass sich Mobilität und Realität längst voneinander verabschiedet haben.


Die Hinfahrt: Ein Filmriss in achtzehn Stunden

Die ersten 300 Kilometer liefen reibungslos. Sogar entspannt. Die Kinder waren mit ihren VR-Brillen beschäftigt, Podcasts liefen, wir fühlten uns fast wie in der Zukunft. Und dann – kurz hinter Kufstein – schlug die App zum ersten Mal Alarm:
„Brenner Süd – System-Load-Management aktiv. Ladesäulen offline. Nächster verfügbarer Slot in 5 Stunden 20 Minuten.“

Unser fest reservierter Premium-Platz um 13:45 Uhr war zwar noch gelistet, aber schon mit gelber Warnmarkierung versehen. „Nur ein temporärer Glitch“, sagte ich. Noch.

Als wir um 13:40 Uhr am Brennerparkplatz einrollten, stand da schon eine unübersehbare Menschenmenge. Überfüllte Schnellladeinseln. Mütter mit schreienden Kleinkindern auf dem Asphalt. Rentner auf Klappstühlen. Teenager, die ihre Powerbanks mit Solarplatten am Boden luden. Unsere Ladesäule – reserviert und bezahlt – war „defekt“. Die App bot einen neuen Slot um 18:10 Uhr, aber ohne Garantie.

Und da stand ich, mitten im Lärm, während meine Frau versuchte, in der Raststätte einen Kaffee zu bekommen – nur um zu erfahren, dass auch der Shop wegen Lastabwurf geschlossen hatte. Stromausfall. Keine Kaffeemaschine. Keine Toilette.

Um 18:15 Uhr hatten wir 20 Minuten Ladezeit, dann schaltete die Säule ab: „Regionale Netzpriorisierung: Ladevorgang abgebrochen.“ Wir waren bei 47 % Akku. Und es war schon Abend.


Südtirol bei Nacht: Kein Netz. Kein Licht. Kein Platz.

Wir versuchten es bei fünf Hotels in der Region. Alle ausgebucht. Oder voll mit E-Autos, die auf 11-kW-Dosen lutschten. Die letzte Hoffnung war ein Gasthaus irgendwo im Nirgendwo, mit Dieselgenerator im Hof. 25 Euro pro Stunde. Elf kW. Zwei Steckdosen. Ich verhandelte nicht. Ich zahlte.

Wir kamen um halb drei Uhr morgens in Milano Marittima an. Das Hotel war offen, ja – aber der reservierte Parkplatz war weg. „Bei Nichtanreise bis 18 Uhr wird er neu vergeben“, sagte der Nachtportier entschuldigend. Die Familie durfte einchecken – notgedrungen. Doch ich musste draußen bleiben. Unser E-Van durfte nicht auf dem Hotelgelände stehen, kein freier Platz, kein Stromanschluss.

Ich parkte am Straßenrand, im Halteverbot, nur halb unter einer Pinie, direkt an der Ausfallstraße. Schlafen im Auto. Allein. Kein Auge zugetan. Immer mit dem Gedanken im Nacken, dass der letzte Bus – beim Urlaub vor zwei Jahren – genau hier, in der Nähe von Ravenna, aufgebrochen wurde. Es war dieselbe Gegend. Dieselbe Schwüle. Dieselbe Unsicherheit.

Um fünf Uhr früh knallte irgendwo eine Mülltonne. Ich fuhr hoch, schweißgebadet. Um sechs dämmerte der Himmel, und ich war bereits auf den Beinen – mit geschwollenen Knien, einem tauben rechten Fuß und der Frage:
Was mache ich hier eigentlich?


Die Tage am Meer: Ein Käfig aus Strommangel

Das Hotel hatte zwar eine E-Säule – aber nur eine. Und nur nachts aktiv. Tagsüber wurde sie vom Netzbetreiber zentral deaktiviert. Zwischen 13:00 und 20:00 Uhr war das gesamte Viertel netzgedrosselt. Klimaanlage? Nur phasenweise. Kühlschrank? Schwankte. WLAN? Brachte mehr Fehlermeldungen als Verbindung.

Auf dem Bildschirm im Foyer las ich:
„Bitte vermeiden Sie unnötige Ausflüge mit dem E-Fahrzeug. Rückkehr kann nicht garantiert werden.“

Wir machten Ausflüge zu Fuß. Es war wie 1978, nur mit schlechterem Eis und schlechterer Laune. Unsere Tochter weinte an Tag drei. Unser Sohn sprach zwei Tage lang gar nicht mehr mit uns. Als sich am Mittwoch ein Pärchen aus Hamburg auf dem Rückweg im Standstreifen festfuhr – leerer Akku, kein Netz, kein Abschleppdienst –, wussten wir, dass es nicht besser werden würde.


Die Rückfahrt: Flucht nach hinten

Wir wollten bis Samstag bleiben. Wir reisten Donnerstagabend ab. Mein Arbeitgeber hatte mir Freitag freigegeben. Aber nicht Montag. Und ich wusste: Wenn wir noch einmal in eine solche Ladespirale geraten, riskierte ich mehr als nur schlechte Laune.

Aber auch die Rückfahrt wurde zur Farce.

Unser Slot in Bologna – gestrichen.
Der Ersatzslot in Trento – ebenfalls.
Systemweite Priorisierung für Industrie und Notdienste. Tourismus = niedrigste Stufe.

Wir standen vier Stunden in einer Warteschlange in einem Privatpark in den Dolomiten. Preis: 8,50 € pro kWh. Gesamtpreis für eine Teilfüllung: 312 Euro. Die letzte Etappe bis Innsbruck schafften wir nur, weil ich das Auto im Eco-Modus mit 85 km/h über den Brenner schleppte. Die Kinder hielten sich die Decken über die Beine, weil die Klimaanlage ausgeschaltet war.


Das bittere Ende: Ein leerer Akku. Eine erschöpfte Familie. Eine klare Entscheidung.

Wir kamen mit einem Tag Verspätung nach Stuttgart zurück. Montagmorgen 03:40 Uhr. Ich schlief nicht, duschte, fuhr direkt zur Arbeit. Meine Frau blieb mit den Kindern zu Hause – beide krank, beide erschöpft.

Das Auto? Habe ich am Mittwoch verkauft.


Was bleibt

Was bleibt, ist nicht nur Wut. Es ist Erschöpfung. Enttäuschung. Und ein tiefer Zweifel an der Behauptung, dass „alles wird gut, wenn nur alle umsteigen“. Denn wir sind umgestiegen. Wir haben bezahlt, geplant, reserviert, geglaubt. Und das Ergebnis war: Chaos, Abhängigkeit, Ohnmacht.

Die E-Mobilität im Jahr 2035 ist kein Fortschritt – sie ist ein Flaschenhals.
Und wenn wir nicht aufhören, diese Realität zu beschönigen, fahren wir sehenden Auges in den Kollaps.

Nächstes Jahr fahren wir nicht in den Urlaub.
Wir bleiben zu Hause.
Oder wir nehmen den Zug – sofern er fährt

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