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Drei Bücher für eine hellwachere Gegenwart
Lektüren für Leser, die sich nicht beruhigen lassen
In einer Zeit, in der Politik sich gern als Verwaltung des Unabänderlichen tarnt und Kulturkritik oft im Tonfall der Selbstberuhigung daherkommt, braucht es Texte, die die Oberfläche zerkratzen. Drei Bücher – unterschiedlich im Genre, ähnlich in ihrer analytischen Härte – verdienen es, heute erneut gelesen zu werden. Sie liefern das, was La Dernière Cartouche verlangt: geistige Munition.
1. Mark Fisher
Capitalist Realism. Is There No Alternative? (2009)
Kaum ein Buch der letzten zwanzig Jahre hat die Stimmungslage westlicher Gesellschaften so präzise beschrieben wie dieser knappe Essayband. Fisher analysiert, wie ein ökonomisches System zur Wahrnehmungsordnung wird. Wo Politik nur noch Budgetverwaltung kennt, entsteht eine Kultur des „Es gibt keine Alternative“. Das Resultat ist ein Realismus, der sich nicht auf Fakten, sondern auf Erschöpfung gründet.
Fisher zeigt, wie Popkultur, Bildung, Arbeit und psychische Gesundheit in denselben Kreislauf geraten: Anpassung statt Kritik, Müdigkeit statt Konflikt. Wer die geistige Architektur der Gegenwart verstehen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei.
Warum für LDC relevant:
Weil Fisher die strukturelle Selbstlüge moderner Gesellschaften präzise benennt. Seine Diagnose ist kein kulturkritisches Lamento, sondern eine Demontage der Alternativlosigkeit, die Politik und Medien gerne als Naturgesetz verkaufen.
2. Anna Seghers
Transit (1944)
Ein Roman, der heute wie ein politisches Traktat wirkt. Seghers erzählt von Menschen, die im Marseille der 1940er Jahre zwischen Grenzen, Konsulaten und Papieren stranden. Doch der Text ist weit mehr als Exilliteratur. Er beschreibt eine Zustandserfahrung: die Absurdität bürokratischer Systeme, den Druck der Identitätszuweisungen, die Müdigkeit eines Europas, das sich selbst nicht mehr versteht.
Seghers gelingt etwas Seltenes: ein literarisches Dokument über administrative Gewalt. Die Figuren leben im Dazwischen, und genau dort entsteht die politische Wahrheit des Buches.
Warum für LDC relevant:
Weil Transit den Gegenwartsdiskurs über Migration und Ordnungspolitik entlarvend spiegelt. Nicht als moralische Klage, sondern als Beschreibung eines Mechanismus, der bis heute fortwirkt.
3. John Gray
Black Mass. Apocalyptic Religion and the Death of Utopia (2007)
Gray argumentiert kühl: Der westliche Fortschrittsglaube ist keine rationale Idee, sondern eine säkularisierte Erlöserreligion. Revolutionäre, Technokraten, Liberale, Neokonservative – sie alle teilen einen utopischen Kern. Und Utopien, so Gray, seien nicht bloß naiv, sondern gefährlich.
Das Buch zeichnet die Linie von der Apokalytik der frühen Christen bis zu den politischen Heilsversprechen der Moderne. Die Pointe ist hart: Die Gewalt des 20. Jahrhunderts war kein Betriebsunfall, sondern die logische Folge einer Ideologie, die sich als Vernunft ausgibt.
Warum wir das Buch empfehlen ?:
Weil Grays Analyse hilft, den moralischen Überschuss heutiger Politik, NGO-Rhetorik und Aktivismusbewegungen zu verstehen. Er liefert das Vokabular, um über politische Fantasien ohne Pathos zu sprechen.
Drei Bücher, drei Blickwinkel, ein gemeinsamer Nenner: Sie machen deutlich, dass die Gegenwart keine Naturtatsache ist, sondern Folge von Erwartung, Ideologie und Müdigkeit. Wer etwas ändern will, muss zuerst verstehen, warum alles so wirkt, als könne es nicht anders sein.




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