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Der gemalte Körper der Ordnung
Frauenbilder in der Renaissance – und die Rückkehr des Blicks
Oben: Bildnis der Ginevra de’ Benci, Leonardo da Vinci, 1474–1478, Öl auf Holz, 43 × 37 cm
Links: Handstudie, Leonardo da Vinci, 21 × 15 cm
Rückseite: VIRTVTEM FORMA DECORAT:
Im leisen Zwielicht leerer Museumssäle fragt Solène M’Bali nach den wahren Geschichten hinter den Porträts der Renaissance.
Ihr Essay macht uns zu Zeugen eines stillen Widerstands gegen die Norm der Schönheit – und öffnet den Blick für die unsichtbaren Stimmen der Kunst.
Ein Text über das Erinnern, das Sehen und den Mut, Restlicht zu sammeln.
Solène M’Bali
Archivarin der Zwischenräume – für La Dernière Cartouche
Manchmal sitze ich in einem leeren Museumssaal, spät am Nachmittag, wenn das Licht schon dünn wird und die Aufsicht müde ist. Die Gesichter auf den Leinwänden verlieren dann ihren Glanz. Die Frauen der Renaissance sehen mich an, als hätten sie genug davon, schön zu sein. Ihre Blicke sind müde von Jahrhunderten der Betrachtung.
Ich denke oft daran, dass sie nie um ihr Porträt gebeten haben. Jemand entschied für sie – ein Vater, ein Ehemann, ein Orden. Der Maler folgte keinem inneren Impuls, sondern einem Auftrag: ein bestimmtes Bild von ihr zu sichern. Die Farbe war Versprechen und Urteil zugleich. Jede Pose bedeutete etwas, jede Falte gehorchte einer Regel. Schönheit war Pflicht, nicht Zufall.
Die Religion legte fest, wie Anmut aussehen durfte. Das Blau des Mantels, das geneigte Haupt, die Haltung der Hände – alles hatte Bedeutung. In der Madonna sah man die Reinheit, in der Venus die Versuchung. Dazwischen blieb kein Raum für das, was wirklich lebte. Es gab keine Sprache für eine Frau, die einfach nur sie selbst war.

Leonardo da Vinci:
Dame mit dem Hermelin
(Cecilia Gallerani)
Und doch – wenn ich lange genug hinsehe, beginnt etwas zu sprechen. In Leonardos Porträt der Cecilia Gallerani erkenne ich keine Muse, sondern eine Frau, die den Blick aus dem Bild hinauswendet, als folgte sie einer Bewegung jenseits des Rahmens. In dieser Wendung liegt Wachheit, nicht Gehorsam. Ihr Gesicht bleibt gesammelt, doch die Augen halten etwas fest, das sich dem Betrachter entzieht: ein Gedanke, eine Stimme, vielleicht ein Rest von Freiheit.
Vielleicht war die Freiheit des Malers nichts anderes als der Mut, solche Augen zu zeigen. Zwischen den Vorgaben des Auftraggebers und dem Diktat der Kirche musste er einen schmalen Weg finden. Der Pinsel war seine Diplomatie. Ein falsches Licht konnte als Sünde gelten, eine zu menschliche Regung als Frevel. Und doch wagten manche es, Glauben und Körper nebeneinander bestehen zu lassen.
Die Malerei der Renaissance war eine Kunst des Gehorsams. Aber in diesem Gehorsam wuchs das Unaussprechliche. Hinter der Perfektion lag ein stilles Wissen, dass Schönheit nicht erlöst, sondern erinnert. Vielleicht sind diese Gesichter deshalb so still – sie tragen die Last einer Welt, die ihnen keine Stimme gab.
Wenn ich ihre Porträts betrachte, spüre ich eine Geduld, die größer ist als Schweigen. Diese Frauen warten darauf, wieder gelesen zu werden. Nicht als Sinnbilder, sondern als Spuren eines gelebten Lebens. Sie waren Töchter und Mütter, Geliebte, Witwen, Nonnen, Bürgerinnen. Ihre Namen gerieten in Vergessenheit, ihre Geschichten lösten sich in Verträgen und Testamenten auf, in der Sprache der Männer, die sie beschrieben. Doch ihr Blick blieb – und erzählt, was die Worte ausließen.
Sie ist das Gedächtnis der Welt – sie lehrt uns, dass alles Schöne schon Abschied in sich trägt.
Ich bin keine Kunsthistorikerin. Ich bin Sammlerin von Restlicht. Ich folge den Spuren, die sich weigern, zu verblassen. Eine kleine Geste am Rand eines Gemäldes kann mich stundenlang beschäftigen: die Hand einer Frau, die sich nicht ganz schließt, ein Schatten auf der Wange, der wie ein Gedanke wirkt. Das sind die Räume, in denen Erinnerung beginnt.
Vielleicht besteht meine Arbeit darin, das Ungehörte durch Nähe sichtbar zu machen. Ich folge den Spuren jener Frauen, deren Gesichter einst genügten, um Geschichten zu erzählen – deren Stimmen aber verstummten. In meiner Arbeit versuche ich, Bild und Wort wieder miteinander zu verbinden.
Die Maler hatten ihre Aufträge, ihre Grenzen, ihre Angst vor der Kirche. Aber sie schufen Bilder, die über sie hinauswuchsen. In der Ruhe ihrer Linien lebt etwas, das keine Autorität mehr beherrschen kann: ein Gedächtnis des Menschlichen.
Wenn ich den Saal verlasse, begleiten mich ihre Gesichter. Sie erscheinen wie Zeuginnen einer vergangenen Ordnung, die noch immer Fragen stellt. In ihren Zügen liegt kein Geheimnis, sondern eine stille Antwort auf das, was wir zu verstehen suchen. Diese Frauen zeigen, wie die Welt sich selbst sah – und wie sie gesehen werden wollte. Wahre Erinnerung beginnt in dem Moment, in dem der Blick des Betrachters die Sicherheit verliert und Offenheit zulässt.
Ich gehe dann hinaus in das helle Licht vor dem Museum, das sich im Glas der Türen spiegelt. Für einen Moment scheint es dasselbe Licht zu sein, das einst über den Werkstätten von Florenz lag. Vielleicht ist es nur eine Erinnerung an dieses Licht, das über die Jahrhunderte weiterwandert. Niemand schreibt heute mehr vor, wie man es zu malen hat.
Vor einigen Wochen stand ich in Washington, in einem kleinen Raum der National Gallery. Vor mir hing Leonardos Ginevra de’ Benci. Das Licht war kühl, das Glas makellos. Auf der Rückseite des Bildes – verborgen für den Besucher – befindet sich ein Lorbeerkranz mit der Inschrift Virtutem forma decorat: Die Tugend schmückt die Schönheit.
Ich dachte an den Satz und an die Frau, deren Gesicht dieses Gebot tragen musste. Der Kopf leicht gedreht, das Haar schlicht geflochten, der Mund verschlossen, als wüsste er, dass jedes Wort zu viel wäre. Der Maler hat sie mit einer Sanftheit gemalt, die nicht demütig wirkt, sondern wach. In ihrem Blick liegt eine Ruhe, die sich nicht erklären lässt – eine Gegenwart, die stärker wirkt als das Gebot der Form.
Vor diesem Gemälde begreift man, dass die Renaissance keine Epoche des Erwachens war, sondern eine des Aushaltens. Sie lehrte, dass Schönheit eine Form von Ordnung sei. Doch manchmal, in einem Gesicht wie diesem, zerreißt die Ordnung für einen Atemzug. Dann blickt eine Frau zurück, über Jahrhunderte hinweg – und alles, was Geschichte über sie geschrieben hat, wird still.
Ich blieb lange dort stehen, um den Blick dieser Frau auszuhalten. Das Gemälde schien mich zu prüfen, als wolle es wissen, ob ich verstanden habe, was Schönheit verlangt. In dieser stillen Begegnung erkannte ich, dass Erinnerung aus der Tiefe des Blicks erwächst – dort, wo ein Gesicht uns erreicht und für einen Augenblick gegenwärtig bleibt.




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Markus Lüpertz Porträtkarikatur
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