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Der Krieg in den Köpfen

Eine Anatomie des Zerfalls

Pierre Marchand Siegel

✍️ Pierre Marchand

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Pierre Marchand schreibt für La Dernière Cartouche über imperiale Linien, tektonische Verschiebungen und die wahren Bewegungen hinter den Flaggen. Er ist kein Kommentator, sondern Chronist – nicht von Ereignissen, sondern von Zusammenhängen. Geprägt von der Schule Scholl-Latours, denkt er kontinental, schreibt verdichtet und urteilt nie schneller, als er recherchiert. Marchand war lange als Auslandskorrespondent in Algerien, Jugoslawien, der Sahelzone und zuletzt in der Osttürkei unterwegs. Er glaubt nicht an Verschwörungen – aber an Interessen. Und an das Gedächtnis der Geographie.

📂 Rubrik: Politik & Geschichte
🗓️ Veröffentlichung: 04. April 2025
📰 Medium: La Dernière Cartouche

Kriegstauglich statt kritisch – wie wir den Frieden verlieren, bevor der Krieg beginnt.
Während Panzer und Parolen marschieren, schweigen die Medien, verdampft der Widerstand und wird Denken zur letzten Form der Verteidigung. Ein Essay über Sprachverrohung, moralischen Verrat und den schleichenden Zerfall einer Gesellschaft, die einst an Frieden glaubte.

Will die Regierung noch was die Bevölkerung will ? oder will sie was von der Bevölkerung ?
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er Krieg beginnt nicht mit dem ersten Schuss. Er beginnt, lange bevor die ersten Waffen bewegt werden, in den Köpfen der Menschen, in den Begriffen, die sie denken, in den Worten, die sie wiederholen, ohne sie zu prüfen. Was heute in den Debatten um „Kriegstauglichkeit“ und „Kriegsfall“ anklingt, ist nicht bloß eine rhetorische Verschiebung, sondern eine stille, aber radikale Veränderung des politischen Selbstverständnisses. Wo einst vom Verteidigungsfall die Rede war, von der Notwendigkeit, einen Angriff abzuwehren, wird nun eine Bereitschaft kultiviert, aktiv in kriegerische Handlungen einzutreten. Die Sprache entfernt sich von der Verteidigung und nähert sich der Offensive. Wer die Begriffe verändert, verändert die Realität, in der Politik möglich, denkbar und schließlich unvermeidlich wird. Und während diese neue Realität vorbereitet wird, bleibt der Protest aus. Die Anpassung geht tiefer als jede politische Maßnahme: Sie dringt bis in die Strukturen der Sprache und des Denkens vor.

Parallel dazu vollzieht sich ein Umbruch in der wirtschaftlichen Struktur der Gesellschaft, der oft als notwendige Modernisierung gefeiert wird, in Wirklichkeit aber einen epochalen Verlust bedeutet. Die deutsche Industrie, einst bewundert für ihre Ingenieurskunst, wird stranguliert durch eine Umweltpolitik, die Innovationen nicht fordert, sondern blockiert, durch Bürokratie, die Eigenverantwortung erstickt, und durch eine Energiepolitik, die mehr kostet als sie liefert. Die Automobilindustrie, das Rückgrat des deutschen Exportwunders, wird abgebaut – nicht ersetzt durch nachhaltigere Industrie, sondern durch die Wiederauferstehung der Rüstungswirtschaft. Unternehmen, die einst für zivile Mobilität standen, wie Porsche, rüsten um. Was gestern Geschwindigkeit und Freiheit versprach, produziert morgen Drohnen und Panzer. Der Umbau der Wirtschaft folgt keiner ökologischen Vision, sondern einer geopolitischen: Produktion für den Krieg, nicht für das Leben. Und während alte Industrien verfallen, wächst ein neuer Markt heran, der kaum hinterfragt wird, weil er als Verteidigung etikettiert wird. Verteidigung vor wem, für was, zu welchem Preis – das fragt kaum noch jemand.

In der Außenpolitik zeigt sich die gleiche Bewegung. Die Eskalation in der Ukraine ist nicht nur das Ergebnis äußerer Umstände, sondern auch eine Frage politischer Entscheidungen, für die Deutschland Mitverantwortung trägt. Die Rhetorik der Bundesregierung, insbesondere unter Außenministerin Baerbock, ist nicht von dem Geist getragen, der Frieden als Ziel und Verhandlung als Mittel sucht, sondern von einer Moral, die den Sieg um jeden Preis anstrebt. Keine Kosten werden gescheut, keine Warnung wird ernst genommen. Experten wie Wöhler, die auf die Risiken hinweisen, werden überhört. Unbegrenzte Ausgaben werden nicht hinterfragt, sondern als Notwendigkeit moralisch aufgeladen. Wer Zweifel anmeldet, wird diskreditiert. Die deutsche Politik hat sich von der mühsamen, oft unvollkommenen Kunst der Diplomatie verabschiedet und sich der Logik des totalen Engagements unterworfen. Und während die Eskalation täglich neue Opfer fordert, wird jeder Gedanke an Verhandlungen als Verrat am Guten gebrandmarkt.

Die Medien spielen in diesem Szenario keine beobachtende, hinterfragende Rolle mehr. Sie sind nicht länger Chronisten der Ereignisse, sondern deren Verstärker. Kritik wird nicht analysiert, sondern pathologisiert. Abweichende Meinungen werden nicht geprüft, sondern etikettiert. Wer Fragen stellt, gefährdet angeblich die Einheitsfront. Statt Komplexität sichtbar zu machen, wird die Realität vereinfacht. Statt Ambivalenzen auszuhalten, werden klare Fronten gezogen. Statt den Leser zur Mündigkeit zu erziehen, wird er zum Konsumenten eines moralischen Dogmas herabgewürdigt. Medien, die früher Stolz darauf waren, Macht zu kritisieren, sind heute stolz darauf, Macht zu bestätigen, solange sie sich als die richtige ausgibt. Der Diskursraum verengt sich nicht durch Gesetze, sondern durch den freiwilligen Gehorsam gegenüber dem jeweils dominierenden Narrativ.

Die Friedensbewegung, die einst eine gesellschaftliche Kraft war, existiert nur noch als nostalgische Erinnerung. In den 1980er Jahren standen Hunderttausende gegen die atomare Eskalation auf den Straßen. Heute fehlen diese Stimmen. Nicht, weil der Krieg weniger bedrohlich wäre, sondern weil der Mut, unbequem zu sein, geschwunden ist. Die einstige Fähigkeit, eigene Verbündete zu kritisieren und die eigene Moral zu hinterfragen, wurde ersetzt durch ein reflexhaftes Einordnen in Lager. Wer heute den Frieden sucht, gilt als Störer des Fortschritts. Der lange Atem des Gewissens wich dem kurzen Atem des Sendungsbewusstseins. Und so fehlt inmitten der größten Aufrüstung seit Jahrzehnten die leise, aber notwendige Stimme, die erinnert: Frieden ist nicht das Fehlen des Krieges, sondern das bewusste Handeln gegen ihn.

Kriegstauglichkeit ist nicht nur ein Zustand der militärischen Bereitschaft. Sie ist ein geistiger Zustand. Eine Gesellschaft, die sich als kriegstauglich definiert, definiert sich nicht mehr durch ihre kulturelle Blüte, ihre soziale Gerechtigkeit oder ihre wissenschaftliche Neugier. Sie definiert sich durch ihre Fähigkeit zur Gewalt. Sie akzeptiert den Ausnahmezustand als Normalität. Sie duldet die Einschränkung von Freiheiten im Namen der Sicherheit. Sie erzieht ihre Kinder nicht mehr zur Verantwortung, sondern zur Gefechtsbereitschaft. Kriegstauglichkeit bedeutet die Aufgabe der zivilen Tugenden zugunsten der militärischen Tugenden: Gehorsam statt Kritik, Stärke statt Vernunft, Sieg statt Verstehen.

Wohin dieser Weg führt, ist keine offene Frage. Er führt zu einer Gesellschaft, die ihre innere Freiheit verliert, während sie ihre äußere Stärke zu behaupten sucht. Er führt zu einem Europa, das seine Identität als Friedensmacht preisgibt und sich stattdessen in geopolitischen Machtspielen verstrickt, die es nicht gewinnen kann. Er führt zu einer Politik, die aufhört, soziale Probleme zu lösen, weil sie sich in militärischen Problemen aufreibt. Er führt zu einem Zerfall der demokratischen Kultur, weil Kriegstauglichkeit und demokratische Offenheit letztlich unvereinbar sind. Eine Gesellschaft, die sich mental auf den Krieg vorbereitet, wird irgendwann auch strukturell autoritär werden müssen, um ihre eigene Härte aufrechtzuerhalten.

Was bleibt, ist das Denken. Das Erinnern. Das stille, beharrliche Bestehen auf einer anderen Möglichkeit.
Es bleibt die Treue zu Prinzipien, die nicht populär sind, aber notwendig.
Es bleibt die Gewissheit, dass der wahre Widerstand nicht in Schlagzeilen, nicht in Slogans, nicht in Empörung besteht, sondern im langen Atem des Unbeugsamen.
Dass Frieden nicht in den Parolen der Mächtigen entsteht, sondern im Zweifel derer, die sich nicht bestechen lassen – nicht von Angst, nicht von Moral, nicht von Opportunismus. Es bleibt das Wissen, dass Denken selbst eine Form des Widerstands ist. Und dass eine Gesellschaft, die das Denken verliert, den Krieg längst verloren hat, noch bevor der erste Schuss fällt.

Während die industrielle Substanz zerbröckelt, wächst ein Sektor im Schatten: die Rüstungsindustrie. Was lange als notwendiges Übel galt, wird heute als Chance gefeiert. Unternehmen, die einst für zivile Produktion standen, entdecken die Waffenfertigung als neues Wachstumsfeld. Die Umstellung erfolgt nicht durch politische Beschlüsse, sondern durch Marktanreize. Wo Auflagen und Energiekosten den klassischen Industrien die Luft abdrehen, blühen Rüstung und Verteidigung auf. Der Staat subventioniert, garantiert Abnahme, lobt Investitionen, die vor Jahren noch Anlass zur Sorge gewesen wären. Der öffentliche Diskurs folgt dieser Bewegung stillschweigend. Rüstung wird als Innovation verkauft, Kriegswirtschaft als Fortschritt. Wer nachfragt, ob eine Gesellschaft, die mehr Panzer als Autos produziert, wirklich auf dem richtigen Weg ist, gilt als Träumer. Die schleichende Transformation der Wirtschaft vollzieht sich nicht über Nacht, sondern in kleinen Schritten, getragen von einer Mischung aus Gewöhnung und stiller Zustimmung. Der Übergang vom Exportweltmeister zum Waffenlieferanten wird nicht ausgerufen – er wird gelebt.

Diese Transformation bleibt nicht ohne Wirkung auf das Selbstverständnis der Gesellschaft. Eine Wirtschaft, die zunehmend auf Rüstung setzt, braucht Bürger, die diese Produktion nicht nur dulden, sondern als notwendig und sinnvoll begreifen. Hier greifen Medien und Politik ineinander. Die ständige Wiederholung der Begriffe „Bündnisfähigkeit“, „Verteidigungsbereitschaft“ und „nukleare Teilhabe“ bereitet den Boden für eine Mentalität, die Krieg als normal, ja als unausweichlich empfindet. Die Grenzverschiebung in der Sprache – von Verteidigung zu Angriff, von Frieden zu Sicherheit durch Stärke – wird nicht offen diskutiert, sondern über alltägliche Botschaften eingeübt. Nachrichten, Talkshows, Kommentare – sie alle erzeugen ein Grundrauschen, in dem Zweifel als Gefahr erscheinen und Zustimmung als Vernunft.

In diesem Klima ist es kein Wunder, dass die Eskalation in der Ukraine nicht als Tragödie, sondern als notwendige Härte inszeniert wird. Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle – nicht als Vermittler, sondern als Antreiber. Die Außenpolitik, angeführt von einer Generation, die sich moralisch unangreifbar wähnt, verfolgt eine Logik des Sieges, nicht der Verständigung. Außenministerin Baerbock steht sinnbildlich für diese Haltung: Keine Verhandlungen ohne Vorbedingungen, keine Rücksicht auf geopolitische Realitäten, keine Kostenbremse in der Unterstützung. Die Prämisse lautet nicht mehr, den Krieg zu beenden, sondern ihn zu gewinnen. Und wenn der Preis dafür endlose Eskalation ist, dann wird er in Kauf genommen.

Die Medien verstärken diese Haltung, indem sie alternative Perspektiven systematisch marginalisieren. Stimmen, die auf die Gefahren einer endlosen Eskalation hinweisen, werden nicht widerlegt, sondern delegitimiert. Experten, die warnen, werden zu Außenseitern erklärt. Der Diskursraum verengt sich immer weiter, und mit ihm die Möglichkeit, die politische Richtung zu korrigieren. Wer heute für Frieden plädiert, muss sich rechtfertigen, als wolle er Verrat begehen. Das ist keine freie Debatte mehr – das ist Disziplinierung.

Gleichzeitig wird der Verlust der alten Friedensbewegung schmerzlich spürbar. Ihre Stimmen fehlen nicht nur in den Medien, sie fehlen auch im Bewusstsein der Gesellschaft. Es gibt keine breite moralische Opposition gegen die Aufrüstung mehr, keinen gesellschaftlichen Reflex, der fragt, was dieser Kurs langfristig bedeutet. Die wenigen, die noch erinnern, dass Krieg nicht nur an der Front, sondern auch im Herzen einer Gesellschaft Verwüstungen anrichtet, bleiben ungehört. Die neuen Kriegsfreunde tragen ihre Überzeugungen mit dem Eifer von Bekehrten vor – und vergessen dabei, dass Moral, die sich mit Gewalt verbindet, ihre eigene Grundlage verrät.

Kriegstauglichkeit wird so zu einem neuen gesellschaftlichen Ideal. Es prägt nicht nur die Rhetorik der Politik, sondern auch das Selbstbild der Bürger. Gehorsam ersetzt Kritik. Härte ersetzt Nachdenklichkeit. Die Bereitschaft, sich selbst als Teil eines notwendigen Opfers zu sehen, wird zur Tugend erhoben. Und wer sich diesem Ideal entzieht, wird nicht als Pazifist gesehen, sondern als Bedrohung. Der Ausnahmezustand wird eingeübt, bis er nicht mehr als Ausnahme empfunden wird.

In dieser Bewegung liegt die eigentliche Gefahr. Eine Gesellschaft, die Kriegstauglichkeit als Voraussetzung für ihre Existenz begreift, verliert unweigerlich ihre zivile Substanz. Freiheit, Offenheit, Diskussion – all das wird zur Schwäche umdefiniert. Was bleibt, ist ein harter, kalter Kern: bereit zu kämpfen, unfähig zu leben.

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